Hull hatte kaum seinen Espresso fertig, da klingelte es schon. Wie er sich jeweils auf Lucas Besuche freute! Es war ja nicht selbstverständlich, dass ein junger, oder sagen wir ein noch etwas jüngerer, Mensch diesen alten Kauz freiwillig aufsuchte. Als er die Tür öffnete, lächelte ihm jedoch eine junge Frau entgegen. Guten Morgen, wie kann ich Ihnen helfen? Ohne seine Überraschung zu zeigen.
Hallo, ich bin Lisa, die Schwester von Luca. Er kann heute nicht kommen und deshalb… müssen Sie mit mir vorlieb nehmen.
Hallo, die Schwester! Ich wusste gar nicht, dass Luca eine Schwester hat. Warum kann er denn nicht kommen?
Nichts besonderes. Er hat Schnupfen und möchte Sie nicht anstecken. Ähm, zeigen Sie mir einen Kartentrick?
Äh, ja, komm doch herein. Ich darf dich duzen? Du mich natürlich auch. Ich bin Hull.
Lisa lachte. Er schien ein klein wenig unbeholfen zu sein. Und Hull, ein Vorname?
Auf dem Tisch sah sie eine kleine Notiz, die mit dem Satz endete: „Dall’acqua è emersa la carcassa di un animale.“
Sprechen, äh, sprichst du Italienisch?
Nein, das soll nur…
…verstehe. Und was ist daran so wichtig? An der Emergenz… äh, wenn ich das richtig… Unser Bewusstsein ist emergent, ja?
Perfekt, Lisa. So würde ich das auch sagen.
Aber der Kadaver, was soll diese Metapher?
Oh, nichts. Das war der Vorschlag von Google translate. Und ich nehm immer das Nächstbeste, in der Hoffnung, es sei plausibel.
Gib mir bitte andere Beispiele für emergente Dinge, Hull. Ich möchte nicht an einen Kadaver denken.
Oh, klar. Ja, das ist unangenehm, nicht wahr? Dann nimm Wasser. Zum Beispiel.
Wasser? Wie jetzt?
Wasser ist emergent, äh, und nicht unangenehm, oder?
Wie soll Wasser emergent sein? Zeug, das aus der Tiefe des Wassers emporsteigt, ist doch gemeint.
Nun, Wasser ist in dieser Welt auch aufgetaucht. Denn Wasser ist etwas Zusammengesetztes, also aus einer Menge von Molekülen, äh, das nur unter speziellen Bedingungen, also bestimmtem Druck und Temperatur existiert. Im Grunde, also philosophisch gesagt, als Substanz sozusagen, gibt es aber nur H2O-Moleküle. Wasser ist ja nur eine mögliche Form, wie diese Moleküle erscheinen können. Andere sind Eis oder Dampf. Aber das ist Physik, du hast Recht, das ist uninteressant.
Hm.
Besser wäre vielleicht die Metapher vom Vogelschwarm. Auch ästhetischer, oder nicht? Der Schwarm taucht auf aus der Tiefe des Himmels. Und das zu lösende Problem dabei wäre die neue Qualität gegenüber seinen Elementen, also den einzelnen Vögeln. Ein Vogelschwarm ist definitiv etwas ganz Verschiedenes von einem einzelnen Vogel. Sowohl vom Aussehen her, aber vor allem was seine Funktion betrifft. Man nimmt an, Vögel und andere Tiere bilden Schwärme, um sich zu schützen vor Raubfeinden, vielleicht auch einfach um sich besser zu fühlen auf der Reise. Das kann man aus der Analyse eines einzelnen Vogels eben nicht herleiten, das ergibt nur der Schwarm. Ich würde sagen, das, ja, das macht Emergenz aus.
Okay, und jetzt das Bewusstsein? Aus was ist es denn zusammengesetzt?
Ha! Gute Frage. Aber die meisten Leute sind bereit anzunehmen, dass das Hirn schon mal eine prima Basis für Bewusstsein ist. Nur lässt sich aus der Analyse der Hirnstrukturen, der Hirnzellen, des Hirnstoffwechsels, eben nicht, jedenfalls nicht vollständig, erklären, wie Bewusstsein funktioniert. Folglich sagt man, Bewusstsein sei emergent.
Aha, also wenn ich etwas nicht ganz kapiere, sage ich in Zukunft, das ist mir zu emergent. Und schon ist der Fall gelöst?
Ja, sozusagen. Hull kicherte. Aber denk dran, der Mist ist, dass das Bewusstsein, wie alle emergenten Phänomene, keine Substanz hat. Es taucht auf und verschwindet wieder. Im Schlaf zum Beispiel rauscht es in die Tiefe. Und natürlich auch am Ende des Lebens. Ob es im Jenseits wieder auftaucht… na darauf würde ich nicht wetten.