Wenn man wie Hull gerade hilflos im Krankenhaus liegt, mit Infusionsschläuchen und Katheter ans Bett gefesselt, betäubt von irgendwelchen Medikamenten – ja, dann gelingt’s schon weniger gut, den Tag froh gelaunt zu beginnen.
Hull jedenfalls merkte, dass er seit zwei Stunden einfach nur da lag, unfähig irgendwas zu tun. Appetit hatte er keinen. Das direkt neben ihm aufgetischte frugale Frühstück war völlig unberührt. Nicht einmal den Kaffee hatte er probiert. Nun ja, Hull wäre, hätte ihn das irgendwie gekümmert, sowieso der Ansicht gewesen: Dieser billige Versuch einen brauchbaren Kaffee zu imitieren, konnte trotz oder vielmehr wegen allgemeiner Qualitätsmanagementsverbesserungsmassnahmen, nur schief gehen.
Normalerweise hätte er sich darum gekümmert, die logischen Widersprüche zu lösen. Oja, die gab’s doch zuhauf. Er hätte seinen zweifellos eindrücklichen Verstand benutzt, um die unheile Situation, in der er sich offensichtlich befand, messerscharf zu analysieren. Er hätte sich gefragt, wieso er als Komapatient, der er angeblich war, in eine Nervenklinik und nicht in eine Akutklinik zu liegen kam. Auch wäre ihm daran gelegen, die angeblich fünf Jahre lange Bewusstlosigkeit einer näheren Prüfung zu unterziehen. Zumindest das heutige Datum hätte ihn doch interessieren sollen? Er hätte womöglich sogar kurz in Erwägung gezogen, dass man ihm klammheimlich ein Organ als „Spende“ entnommen haben könnte. Ja, vielleicht, so was kam doch vor. Aber nichts von alledem ging ihm durch den Kopf.
Dieser Kopf fühlte sich reichlich leer an. Das war gar nicht unangenehm. Er konnte in der Tat volle fünf Minuten an die weisse Decke starren, ohne den geringsten Gedanken zu wälzen. Die automatische Selbstgesprächsmaschine in seinen Hirnwindungen war zu seiner eigenen Überraschung lahmgelegt. Um diesen Zustand auch nur zwanzig Sekunden aufrecht zu erhalten, musste er in seinem bisherigen Leben wie ein besessener Buddhist mindestens zwei Stunden lang meditieren.
Was sich in ihm verdichtete, war eher so etwas wie ein Gefühl. Zunächst war es das Bewusstsein, allein zu sein. Wobei lag da nicht nebenan noch einer? Schon, nur dass der noch im Koma lag, sein Gesicht war mit einem Verband fast ganz verdeckt. Als wäre da gar keiner.
Nun, dieses Alleinsein war ein Fakt. Hull hatte ja keine Beziehung mehr. Seine Ehe war schon vor Jahren in die Brüche gegangen, seine beiden Kinder wollten ihn kaum sehen. Freunde hatte er schon lange keine mehr. Ausser natürlich Luca und Lisa. Beim Gedanken an die beiden Geschwister entfaltete sich ein kleines Lächeln in Hulls Gesicht. Umso mehr fühlte er heute ihr Fehlen. Eine Lücke war entstanden in einem bis anhin funktionierenden emotionalen Netz.
Gestern noch waren sie das erste, was er überhaupt wieder wahrgenommen hatte. Heute – natürlich der Tag hatte erst begonnen – heute… Was war da los? Das Alleinsein wandelte sich schleichend in ein Gefühl der Einsamkeit, ein Gefühl das mit Nadelstichen, mit leiser Verzweiflung einher ging. Luca und Lisa – plötzlich tauchte ein absurder Gedanke, mehr eine grausame Frage auf: Gibt es die beiden überhaupt…?
Aber natürlich gab es sie! Was hatte er nicht alles erlebt mit ihnen. Sein Gedächtnis trog ihn offensichtlich, was die letzten Stunden vor der Klinikeinweisung betraf, aber nicht, was die lange gemeinsame Zeit mit seinen Freunden anging. Nur diese eine Figur, dieser Tom, der gab ihm ein Rätsel auf.
Wie gesagt, normalerweise hätte Hull sich auf dieses Rätsel gestürzt; es zweifellos mit seinem scharfen Verstand sogleich aufgelöst, wie Salz im Spaghettiwasser. Jetzt liess er diesen Tom Tom sein und erlebte zum ersten Mal seit langem, was Einsamkeit sein kann. Es fühlte sich an, als müsste er gerade gegen seinen Willen aus einem überlangen, wunderbaren Traum aufwachen und in die grelle unbarmherzige Sonne starren. Deren Licht alles aufdeckte, alle Illusionen zerstörte, alle Hoffnungen gnadenlos verdampfen liess. Er begann zu denken: Wie komme ich hier bloss wieder raus?