T. o. m. (Time of machines)

Nein! Doch. Sehen Sie, Frau Doktor Engelhardt, so einfach ist das nun wirklich nicht.

Tom, jetzt bitte alles schön der Reihe nach. Sie wissen ja inzwischen, dass Sie diesen Herrn Hull nicht besuchen können, weil er hier gar nicht existiert. Jetzt sagen Sie mir doch bitte, wie Sie auf diese Idee gekommen sind, einen Herrn in dieser Klinik zu besuchen, der… der gar nicht existiert?

Frau Engelhardt, langjährige, erfahrene Assistenzärztin, musterte mit wachsendem Interesse den schmächtigen Mann ihr gegenüber, der ziemlich nervös, ja fast schon verstört, wirkte. Ständig fuchtelte er mit seinen Armen herum, wenn er sprach, wohl um seinen Worten irgendwie Nachdruck oder überhaupt eine Bedeutung beizumessen. Ja, so war es wohl. Frau Engelhardt hatte sich auf bizarre Wahnsysteme manisch-depressiver Irrer spezialisiert und ihr Urteil in solchen Fällen war unter Kollegen stets geschätzt, um nicht zu sagen: sie galt als die hauseigene Wahnspezialistin. Eigentlich war niemandem so richtig klar, warum sie es – offensichtlich – versäumt hatte, beziehungsweise nie angestrebt hatte, Karriere zu machen. Mit ihrem profunden Wissen, ihrer nüchternen und doch gewinnenden Art, ihren kommunikativen Höchstleistungen – kurz: mit ihrer insgesamt überragenden Persönlichkeit wäre sie zu Höherem berufen gewesen. Doch nun wollte sie lediglich diesem als Besucher aufgetauchten Menschen etwas genauer auf die Zähne fühlen. Ihr fragender Blick zeitigte Wirkung.

Was heisst schon existieren, Frau Doktor Engelhardt. Wir sind alle nur ein Narrativ, eine Geschichte. Nur durch unsere Biografie, unsere angehäufte, irgendwie geordnete Vergangenheit, nur dadurch existieren wir. Ohne Vergangenheit wären wir beinahe bewusstlos, einem Zombie ähnlich. Verstehen Sie? Es ist also unsere Geschichte, jedem seine eigne Geschichte, die ihn… oder auch sie, ich meine…, diese Sprache, also Frauen sind durchaus mit gemeint, ich weiss, heute genügt das nicht mehr, absolut, aber ich kann nicht anders, so wie mir halt der Schnabel gewachsen ist. Verstehen Sie, Frau Doktor Engelhardt? Was ich sagen wollte: Eben diese Geschichte macht uns aus. Nur diese Geschichte mit all den Tragödien, den Emotionen, den Wünschen und Hoffnungen, nichts anderes. Wir alle sind eine Geschichte, eine Story, eine Erzählung, ein Tagebuch, ein Roman. Daher ist es doch völlig egal, ob wir von einer Geschichte sprechen, die sich ein real existierendes Gehirn über sich selbst zurecht gelegt hat, oder ob es eine Geschichte ist, die jemand über jemand anderen, sogar über einen Fiktiven geschrieben und veröffentlicht hat, oder so. Wo sollte der Unterschied sein?

Haben Sie denn, Tom, jemals versucht, diesen Unterschied festzustellen, bevor Sie zu diesem Schluss gekommen sind?

Sehen Sie, Frau Doktor Engelhardt, ich habe Hull geschaffen und Hull hat dann einfach so aus einer Laune heraus Luca und Lisa geschaffen. Gut, das gab ein paar Probleme, aber das war doch so, wie im richtigen Leben, oder nicht, Frau Doktor Engelhardt? Dann hat Lisa aus durchaus begreiflichen, also aus hormonellen Gründen versucht, Tom zu erschaffen. War das nicht schon früher so, dass Eva Adam erschaffen hat? Ich weiss es nicht mehr, ist schon lange her. Ja, und dann wurde es turbulent. Eine Ebene zu viel, zu komplex. Für mich jedenfalls. Zu viel vor allem auch für den armen Hull. Verstehen Sie? Eifersucht, vielleicht? Keine Ahnung, Sie sind ja die Expertin für derlei Beziehungsgeschichten. Vielleicht könnten Sie das noch ein bisschen besser ausformulieren. Und dann musste das Ganze leider implodieren. Wir mussten wohl oder übel ins Heute katapultiert werden, so trist es hier auch ist. All die feine Nostalgie – einfach umsonst.

Nostalgie?

Ja, nur um Nostalgie geht’s. Alle sehnen sich nach der guten alten Zeit. Sie nicht, Frau Doktor Engelhardt? Sicher, haben auch Sie insgeheim eine Lieblingszeit in der Vergangenheit. Die Achtziger Jahre, vielleicht…? Würde zu Ihnen passen. Michael Jackson, Billie Jean und ein bisschen Moonwalk? Nein? Nun, das werden Sie mir nicht verraten, schon klar. Was ich sagen wollte. Nicht jeder versteht das Gleiche unter der guten alten Zeit. Für den einen ist es die Kaiserzeit, oder nehmen Sie Österreich: Sissi – wie könnte man da nicht nostalgisch werden? Für andere sind es die Fünfziger, die Sechziger, und so weiter. Für einige Unbelehrbare ist es gar die Nazizeit. Schwer verständlich, aber die ist inzwischen so weit weg. Da verklärt sich sogar das Grauen. Oder Revolution, brennende Barrikaden, Lenin, Trotzki – für einige war das das wahre Paradies. Sie verstehen, was ich meine, nicht wahr? Ich glaube, für viele ist die gute alte Zeit deshalb besser als die Gegenwart, weil die Zukunft damals einfach viel schöner war als heute.

Die Zukunft?

Ja, Frau Doktor. Die Zukunft ist doch heute etwas ganz und gar Unangenehmes. Man muss sich doch schon fast zwangsläufig lieber mit der Vergangenheit beschäftigen. Sogar die Gegenwart ist schon verseucht mit dieser schrecklichen Zukunft. Schauen Sie uns an. Wir hocken hier dreiundzwanzig Meter voneinander entfernt, damit wir ohne Maske miteinander reden können, mitten im Winter bei offenem Fenster. Und wir hoffen, die Aerosole seien uns gnädig gestimmt. Mehr bleibt uns nicht. Die Wissenschaft kann ja Vieles, aber ein normales Leben? Das ist futsch. Wo bleibt der Impfstoff? Wie lange muss ich hier noch in dieser dystopischen Unterwelt umherirren? Das ist ja schlimmer als in den Terminator-Filmen. Alien, Blade Runner, Waterworld… alle Sci-Fi-Filme sind längst dystopisch, Endzeitgenre! Die Zukunft ist ein Synonym für Horror geworden, das weiss jeder.

Und die Lösung liegt in der Vergangenheit?

Die Sehnsucht, die Nostalgie, ist sie nicht verständlich? Sehen Sie, Frau Doktor Engelhardt, ich habe Hull bloss um acht Jahre zurückkatapultiert. Offensichtlich war das zu wenig. Deutlich zu wenig. Schon damals, 2013, war nichts mehr, wie es hätte werden sollen. Jedenfalls stelle ich fest, dass die Leute jetzt stark von der Nostalgie der Fünfziger und Sechziger Jahre erfasst werden. Verstehen Sie, nicht dass jemand denkt, damals wäre alles perfekt gewesen. Nein, aber die Zukunft war damals einfach noch viel verheissungsvoller. Nehmen Sie den alten Hull. Der lag in den Sechzigern mit anderen Kids abends auf der Wiese rum, bestaunte die überall herumtanzenden Glühwürmchen und träumte mit diesen Kids zusammen den Traum von der goldenen Zukunft. Überall sollten Lufttaxis herumfliegen, die Landschaft wäre eine einzige grossartige, bunte, glänzende Metropole, da und dort würden ein paar dekorative Bäume herumstehen. Die Menschen würden natürlich zum Vergnügen auf dem Mond herumspazieren und die ersten Marsflüge wären auch schon möglich. Niemand dachte damals an die Vermüllung des Planeten, an Überbevölkerung, an Klimawandel, nicht mal an die Atombomben… Nein, damals war die Zukunft noch schön und die offene Müllkippe neben der Wohnsiedlung war nichts weiter als ein klasse Abenteuerspielplatz. Und heute, Frau Doktor, heute sind wir genau in der Zeit, die sich Hull als Kind so doll vorgestellt hat. Und wie sieht sie aus, unsere Zeit? Wir wissen es. Es fliegen leider weder Taxis noch Glühwürmchen herum, sondern nur noch Viren und Feinstaub.

Eigentlich bringt es nichts, wenn wir hier über Politik sprechen…

…Politik? Ich bitte Sie, Frau Doktor, das ist alles andere als Politik. Das ist ein Narrativ, der Grund, wofür es sich überhaupt lohnt zu leben. Es ist Hulls fantastische Geschichte! Die Hull-Saga, ein monumentales Werk…

…Tom, jetzt bleiben Sie mal auf dem Teppich! Ich muss Ihnen das leider sehr direkt sagen. Wir sollten das Gespräch jetzt sofort beenden. Sie benötigen eine reizarme Umgebung, in der Sie zur Ruhe kommen können.

Reizarm…?

Ja.

Wozu?

Habe ich schon gesagt. Sie müssen zur Ruhe kommen.

Frau Doktor Engelhardt. Sie verstehen mich nicht. Ich bin vollkommen ruhig. Ich bin die Ruhe selbst. Nur schauen Sie doch mal da, ich hab hier Beweise.

Beweise?

Ja, natürlich. Für die Nostalgie der Leute. Ich bin nicht verrückt. Schauen Sie.

Tom kramte ein paar Zettel aus seiner Hosentasche und legte dann einen davon auf den Tisch vor Frau Doktor Engelhardt.

Sie nahm den Zettel und las:

„die schöne Mode und Frisuren das war meine Zeit wo sind die Jahre hin, von den Schauspielern lebt keiner mehr, 6o jahre her“

„Diese schönen alten deutschen Krimis sind noch heute immer wieder sehenswert. Danke sehr fürs Hochladen.“

„I love these German-made Edgar Wallace TV films; they have an atmosphere all their own!“

„die sechsziger jahre waren mein Glück ich will dahin zurück“

„Juhuuuu…wieder einen alten Krimi entdeckt 😁😁😁. Freu, freu… Klasse schwarz weiß Krimi mit tollen Schauspielern, kein Vergleich der heutigen Darsteller, deren Namen es sich nicht zu merken lohnt..“

„Und diese gute Wiedergabequalität! Es passt hier alles zusammen! Freu, freu!“

„“Ich hab etwas gegen Moorbäder!“….. HERRLICH!“

„Genialer Krimi der alten Schule – einfach nur Top. Danke für das Hochladen des grandiosen Krimiklassikers .👍👍👍👍❣🙋‍♀️“

Frau Engelhardt legte den Zettel zur Seite, ihr Blick suchte jenen Toms. Die direkte Verknüpfung der Blicke hatte sich bekanntlich als therapeutisch effizient herausgestellt. Sie wandte diese Technik deshalb gerne an. Offensichtlich war Tom ein interessanter Fall für sie. Sie überlegte schon die ganze Zeit, welche Medikamente wohl die beste Wirkung erzielen würden.

Und? Das sind keine Fake News, Frau Doktor Engelhardt. Die Zitate sind echt. Von einem YouTube-Film. Also um genau zu sein: Kommentare von glücklichen Nostalgikern unter dem Film „Das Wirtshaus von Dartmoor“. Verstehen Sie, die Filmindustrie hat das begriffen. Sie produzieren am Laufmeter Serien, die in den Fünfzigern und Sechzigern spielen. Zum Beispiel Velvet, die spanische Serie über das Modehaus in Madrid. Die Leute sind verrückt danach. Zur Sendezeit sind die Strassen wie leergefegt. Sie schauen sich sogar die italienische Serie Il Paradiso delle Signore auf Italienisch an, selbst wenn sie kein Italienisch verstehen. Was sagen Sie jetzt?

Ähm, Tom, ich denke, dass Sie ganz gerne Seifenopern im Fernsehen anschauen, die Sie in eine frühere Zeit entführen. Ja. So wird’s sein.

Mehr nicht? Und all die Beweise…?

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