Spiel dir das Lied vom Tod

Schön, dass ihr beide noch mal hier seid.

Ja, war ja auch lange Zeit weg.

Kann man so sagen. Es… äh, fällt mir ein Stein vom, vom äh, du weisst schon… Dass du wieder da bist. Ich meine, dass du noch lebst. Das war nicht so klar, all die Jahre.

Hm, sorry, Hull. Ich hätte mal Kartengrüsse schicken sollen.

Allerdings. Eine Karte aus der Karibik kriegt man nicht alle Tage.

Wer schreibt denn noch Postkarten? Gab Luca zu bedenken.

Also, hört mal, ich wollte mit euch noch einmal ein Thema durchgehen. Etwas vertiefen.

Och, treibst du immer noch deine Studien?

Ja, nein. Etwas treibt mich noch um. So könnte man sagen.

Ah, und das wäre?

…Ähm… Ich muss mich mal setzen. Macht’s euch doch auch bequem, Kinders.

Okay, du machst mich neugierig. Was könnte das sein? Wir haben doch alles schon seziert und durchdekliniert in unseren besten Jahren.

Ja, Luca, das stimmt. Und doch… hm… etwas spukt noch herum in den Hirnwindungen.

Da spukt ne ganze Menge, wenn ihr mich fragt. Hull, gibt’s bei dir noch diesen feinen Kaffee?

Leider nein, die Maschine ist kaputt. Hull atmete schwer.

Kaputt? Okay, macht nichts. Kaffee wird eh überschätzt. Lisa schien dennoch enttäuscht.

Also. Ich weiss gar nicht so recht… wie anfangen.

Wir haben Zeit, nicht wahr Lisa?

Ja ja, hab ich, Bruderherz.

Also, hört mal. Wir haben ja früher eine Menge studiert und gelernt. Immer letztlich mit dem Fokus auf das Bewusstsein. Man könnte sagen, mit Fokus auf unser Bewusstsein. Denn wenn man solche Dinge verstehen will, dann doch wohl, weil man sich selbst verstehen will.

Sich selbst und die andern. Wie die ticken und warum sie so und nicht anders funktionieren.

Ja, Luca, auch der Andere. Auch den will man verstehen. Also.

Okay.

Lisa gähnte. Sie hätte lieber eine Runde Poker gespielt, so viel war klar.

Also, stellt euch vor, ihr wacht eines Morgens auf, blickt in den Spiegel und erkennt euch nicht mehr. Da schaut euch ein Fremder an.

Haha, das kenn ich. Und dann?

Luca, das meine ich nicht. Ich meine einen Zustand, in dem du dich auf Dauer nicht mehr erkennst. Du bist dir fremd.

Auch das kenne ich. Ich war mir eigentlich selbst mein Leben lang fremd.

Okay. Auch das… war nicht gemeint.

Hmmm…

Lisa, verstehst du, was ich meine?

Hm, ich denke, du willst auf das Cotard-Syndrom hinaus. Wenn das Ich verloren geht.

Ja, du hast es. in die Richtung geht’s. Auch wenn die Philosophen inzwischen ein anderes Bild dieser Krankheit malen.

Wie anders?

Nun, dem Philosophen mit Interesse an Neurologie ist das Cotard-Syndrom einfach ein Verlust des Ichs. Etwa so, als hätte ein Buddhist dieses tapfer wegmeditiert.

So hab ich’s auch präsent.

Eben. Ursprünglich ist dieses Syndrom aber eher als Negierung des Lebens gedacht, als krankhafte Überzeugung gar nicht zu existieren.

Okay. Aber das ist ja nahe dran.

Ja, das ist nahe dran. Und doch… Hull atmete schwer.

Geht’s dir gut Hull? Lisa besorgt.

Ja, ja. Also, wo war ich stehen… Ja, also was ich sagen wollte. Eigentlich taugt der Begriff Cotard-Syndrom nicht wirklich für das, was mir durch den Kopf wabert. Äh… Das Cotard-Syndrom ist ein Synonym für einen eingebildeten Zombie. Was ich mir… Also, mir geht’s vielmehr darum, dass wir doch uns einig waren, dass… also, dass das normale Ich-Bewusstsein zwar ein evolutionärer Fortschritt darstellt, dass es aber zugleich ein absurdes Produkt ist. Es kann ja nur emergent sein, soviel macht die Hirnforschung klar. Das Bewusstsein und noch viel mehr das Ich-Bewusstsein stellt eine neue Systemebene dar, die sich nicht automatisch an die Vorgaben der unteren Systemebenen hält. Die menschlichen Körper und ihre Grundfunktionen, welche unbewusst gesteuert werden, sind allesamt ganz normale Objekte auf diesem Planeten. Ein Körper, eine Lunge, ein Magen, ein Herz, ein Herzschlag. Objekte eben. Nun kommt die emergente Ebene, die mit ihrer Aufmerksamkeits- und Steuerungsfunktion eine andauernde Gegenwart erzeugt, ein Selbst, eine Seele, ein Ich. Dieses Ich sagt auf einmal: Mein Körper, meine Lunge, etc. Diese Meinigkeit, diese Subjektivität ist die grosse Abweichung. Kein Mensch, so er gesund ist und eben kein Cotard hat, kann dieser Illusion entkommen. Auch jene nicht, die diese schon lange durchschauen und sagen, in Wahrheit kann es kein Ich geben.

Ja, Hull. Aber das ist so neu nicht.

Ja ja. Was ich sagen wollte. Nein, was ich fragen wollte. Ist diese Emergenz nun wirklich so falsch und müssten wir alle wie die Verrückten dieses Ich wegmeditieren? Oder ist es nicht vielmehr ganz normal, mit dieser, oder besser: in dieser Illusion zu leben? Ich meine, so tut es doch der gemeine Atheist. Er hat seine Seele und mit dem körperlichen Tod stirbt sie halt auch. Und damit hat er eigentlich nur ein kleines Problem. Dann nämlich, wenn er nicht sterben will. Ich hingegen dachte eigentlich immer, der Atheist sei genau so gläubig, wie ein Christ oder sonst jemand, der an ewiges Leben glaubt. Nämlich in dem Sinne gläubig, dass er dieser Illusion des Ichs aufsitzt. Auch wenn er dieses zeitlich begrenzt denkt. Die Frage ist doch, wie könnte ein Mensch leben und funktionieren, wenn er sich zwar bewusst steuert, aber sich konsequent als Objekt begreifen würde.

Oh, Mann, Hull, das ist doch Quatsch. Reicht es nicht zu wissen, dass es eine andere Systemebene ist und somit aus der Dritten-Person-Perspektive so was wie eine Illusion oder eine Simulation, was es aber meiner Ansicht nach doch nicht trifft. Und somit kann man ganz prima mit seinen subjektiven Problemen leben, oder? Ich meine, so schlecht macht das der gewöhnliche Atheist gar nicht. Natürlich würde dem einen oder andern schwindlig, wenn er seine temporäre Seele wirklich als emergentes Phänomen begreifen könnte. Aber, Hull, wozu immerfort diese Grenze bearbeiten, warum nicht einfach – leben…?

Ja, Lisa, du… ah, du hast… wohl… äh, recht…

Hull, du bist ja ganz blau im Gesicht.

Wa…? Ich bin doch nicht blau…

Na, deine Lippen sind blau.

Luca, du spinnst… Warum sollten die… Hört mal, ich muss mal ein Glas Wasser trinken.

Hull erhob sich aus seinem Sessel und schlurfte langsam in die Küche.

Lisa und Luca schauten sich an.

Müssen wir uns Sorgen machen?

Quatsch, Hull kommt gleich wieder und quasselt weiter von Dingen, die es eigentlich nicht geben sollte.

Wenn du meinst, Luca. Wir könnten doch eine kleine Runde Poker…

…Ach zu dritt, das ist schon nicht so der Hammer.

Na, ich gewinne gerne auch in kleiner Runde.

Aus der Küche war ein Scheppern zu hören. Und ein dumpfer Schlag.

Hull? Alles okay bei dir?! Lisa lächelte.

Okay, wir können den Tisch ja mal vorbereiten. Vielleicht spielt er mit. Eine Vorliebe für Spielkarten hat er ja durchaus, unser Mastermind.

Super, Luca, so machen wir das!

Fünf Minuten später meinte Lisa, sie gehe doch mal nachschauen, was Hull so in der Küche treibe.

Du meine Güte! Hull!

Luca sprang auf, rannte in die Küche. Hull lag reglos am Boden.

Ist er…?

Ja, Luca.

Lisa weinte, Luca konnte es überhaupt nicht fassen.

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Ein Kommentar zu „Spiel dir das Lied vom Tod

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