Der Alte muss an die frische Luft

Es klingelte. Hull öffnete und sah Lisa. Sie schmiegte und bog sich in den Wind, wie sie das immer tat.

Lisa.

Hull.

Komm rein. Was führt dich zu mir?

Hm, lass uns lieber spazieren gehen.

Spazieren gehen?

Ja, die frische Herbstluft tut uns sicher gut.

Das brauche ich nicht. Meine Gene sind restauriert und ich bin fit.

Ich weiss. Aber…

Hm, meinetwegen. Moment, ich zieh mir noch ne Jacke an.

Hmhm.

So. Los geht’s. Wo gehen wir lang?

Mir egal. Du kennst dich hier aus.

Okay, dann gehen wir in den Wald, zum Schützenhaus.

Ja.

Lisa?

Ja.

Alles gut bei dir?

Ja, klar. – Ach so, du meinst, ich komme wohl nur zu dir, wenn der Baum brennt.

Hm.

Nein, ist alles okay. Ich wollte dich einfach wieder mal sehen.

Was ist mit Tom?

Tom? Was soll mit ihm sein?

Na, ihr seid doch wieder zusammen. Seid ihr noch zusammen, oder…?

Ja, Hull. Sind wir.

Und?

Was?

Also Lisa. Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase… du weisst schon. Wie geht’s euch denn so?

Naja, Kinder kriegen wir keine mehr. Haha.

Der könnte von Tom sein.

Ja. Also, wir haben getrennte Schlafzimmer, wie sich das gehört. Und streiten tun wir auch ab und an. Sonst ist alles gut.

Klingt romantisch.

Was hast du erwartet. Es ist Tom. Er hat anderes im Kopf.

Was denn?

Er will unsterblich werden.

Ja, das weiss ich. Er hat mich auch schon genervt damit.

Kannst du ihm denn nicht helfen? Oder so tun als…?

Hm. Eigentlich wollte ich erst ein paar Jahre abwarten.

Plötzlich war ein Schuss zu hören.

Blöder Schiessstand. Ausgerechnet jetzt fangen die an zu ballern. Gibt’s hier keinen anderen Weg?

Gehen wir da lang. Dem Bach da lang.

Hm. Was abwarten?

Ja, ob es wirklich wirkt.

Hull, wenn ich dich so anschaue, dann bin ich mir eigentlich ziemlich sicher, dass es funktioniert.

Hm, das kann erst die Zeit zeigen. Wenn ich in zehn Jahren immer noch herumspaziere, dann könnte es irgendwie…

Hull. Es gibt doch objektive Marker?

Was für objektive Marker?

Willst du mich ver… Blutwerte, was weiss ich. Davon verstehe ich nichts. Aber du überprüfst das doch wissenschaftlich.

Hm. Und wenn ich das nicht tue?

Wie, und wenn…? Tust du etwa nicht?

Nun waren die Schüsse nur noch von Ferne zu hören. Die beiden Alten gingen dem Bächlein entlang. Es gurgelte und plätscherte. Das bunte Laub raschelte unter ihren Füssen.

Lisa. Wenn das alles nur, ähm, ein Gerücht wäre?

Was? Deine Lebensverlängerung? Deine Auferstehung? Dein Tod? Oder was, genau, Hull?

Hmhm. Lisa, was nochmal war Realität und was Fiktion?

Sag’s mir.

Ja. Realität, Wahrheit, Wirklichkeit – all das sind Dinge die uns Menschen faszinieren, aber auch überfordern. Hoffnungslos überfordern. Wir träumen davon, dass diese edlen Dinge uns leiten. Aber das können sie nicht.

Warum nicht?

Weil wir immer in Fiktionen leben. Tagtäglich erzählen wir uns Geschichten. Wir sagen: Hör mal, was ich gestern da oder dort gesehen, erlebt, gehört habe.

Und? Wo ist das Problem damit?

Eben. Das Problem damit ist, dass wir genau diese Stories als Teil der Realität begreifen. Das ist falsch. Wir erzählen uns Dinge, die wir gerne hören. Und sei es die Geschichte vom Urknall. Ich meine die Entstehungsgeschichte des Universums. Wir erzählen sie, wir lehren sie an Universitäten, als wäre sie die Wahrheit.

Ist sie’s nicht?

Nie im Leben. Es kann keine Singularität geben. Und was es nicht geben kann, das kann auch nicht in einem Urknall explodieren. Das sind feuchte Träume, mehr nicht.

Wie war es dann?

Keine Ahnung. Vielleicht gab es überhaupt nie einen Anfang.

Okay. Und was hat das jetzt mit deiner lebensverlängernden Injektion zu tun?

Na, alles! Unser Leben ist ein einziger Wahn, wenn man so will. Oder ein Traum. Man sollte einfach möglichst dafür sorgen, dass unser Leben eine erträgliche, eine schöne Geschichte ist. Das zumindest versuchen! So lange wie möglich und so erträglich wie… Wie hiess es noch mal? Die Kunst des Lebens sei das Akkumulieren positiver mentaler Zustände.

Hm. Ich akkumuliere also zu meinem Besten irgendwelche Geschichten? Subjektiver Müll? Beliebigkeit?

Jaaha, du musst das nur, ähm, positiver formulieren. Und dran glauben.

Echt?

Werbung

2 Kommentare zu „Der Alte muss an die frische Luft

    1. Danke. Klarheit ist manchmal wohltuend. Ja, ein Gedanke schien störend. Lisa entschied sich deshalb für Ablenkung. Tom jedenfalls hat nichts mitgekriegt, obwohl er vorhin noch am Schiessstand herumspionierte. LG Franz

      Gefällt 1 Person

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s