Aufgetaucht und auferstanden

Die Mutter aller Ruinen

Tom ging scheinbar ziellos in der miefenden Wohnung herum, stöberte da und dort im Staub, fand aber nichts von Belang.

Hm, es bleibt nicht viel von jemand, wenn er sich für immer davon gemacht hat. Eigentlich bleibt – nichts.

Merkwürdig, dass das Haus, scheinbar dem Verfall preisgegeben, seit Jahren leer stand. Offensichtlich gab es Streit zwischen den Erben. Tom liess das kalt. Erben wollte er eh nichts von Hull. Jedenfalls nichts, was sich zu Geld machen liesse.

Aber wenn er noch lebte? Was würde er sagen? Wie könnte er das Absurde unserer Zeit verarbeiten?

Tom versuchte sich vorzustellen, wie Hull dachte, denken würde; er versuchte Hull zu sein. Auch wenn das unmöglich schien. Aber aus dieser Meditation resultierte doch etwas.

Etwas Bizarres allerdings, das schon, aber vielleicht lohnt sich ein kurzer Blick darauf:

Und wieder ist Krieg. Wir haben ihn vollkommen vergessen, er war zu lange weg und wenn er doch da war, im TV, dann weit genug weg. Auf einmal ist er aber wieder da, „mitten“ in Europa, wie man jetzt sagt.

Und schon heulen die Moralisten und schreiben öffentlich Briefe:

Euch interessiert Krieg nicht, so lange er genug weit weg wütet, wenn eure Paläste, euer Sonntagsbraten und euer Urlaub auf Malle nicht in Gefahr ist. Denkt aber an die Verbrechen vergangener Kriege, Irak, Syrien, etc. Und folglich hört jetzt auf, so penetrant empört zu sein. Aber dieses moralisch perfekte Urteil über euch Kriegsbefürworter ist zentraler Punkt unserer Ethik und der ewigen Idee der Gerechtigkeit. Wir setzen uns ein für Verteilungsgerechtigkeit, Bildungsgerechtigkeit, Lohngerechtigkeit, Gendergerechtigkeit etc. etc. etc. Jetzt müssen wir auch auf der Kriegsgerechtigkeit beharren. Natürlich, es ist nicht gut, dass vor unsrer Haustür Krieg ist, neinnein, aber der Krieg in den Ländern, die in der Vergangenheit von den USA und der NATO angegriffen worden sind, diese Kriege sind mindestens…, wenn nicht schlimmer… Nun wollen wir Frieden für alle, aber ohne Waffen! Hört auf diese schweren Waffen in die Ukraine zu schleppen. Denn diese sind die wahre Ursache für den Krieg. Ohne diese Waffen gäbe es Verhandlungen und man würde…, nein, man wird bestimmt einen gerechten Frieden aushandeln, bei dem jede Seite zu ihrem Recht kommt.

Hull kann nicht sagen, dass das vollkommen falsch wäre, so absolut falsch ist es ja nicht. Aber richtig leider auch so gar nicht. Vor allem wenn der Gegner ein Abziehbild von Stalin ist und auf diese ganze schöne Moral pisst und für diese „dekadente“ Haltung nur ein mitleidiges Lächeln übrig hat.

Ja, im Leben muss man sich manchmal entscheiden.

Dafür haben sich die Philosophen und Politologen und andere Schlaumeier die moralischen Dilemmata ausgedacht. Diese Dinger, wo man sich – in Gedanken zum Glück – entscheiden muss, ja muss, wen man opfert, z.B. einen einzelnen alten Sack ODER zwanzig süsse kleine Zwerge, die ihre Zukunft noch… ihr wisst schon. Bisher habe ich diese Dilemmata immer als unmoralisch zurückgewiesen. Wir dürfen also diesen alten Sack töten, oder? Und das alles, um uns Schmerzen zu bereiten, also Klartext, um uns zu Mördern zu machen.

Um uns endlich zu dem zu machen, was wir ja eigentlich von Natur aus schon sind.

Ja, es tut weh zu sagen: He, ihr kriegt keine Waffen, macht „Frieden“ mit den Russen, lasst euch „entnazifizieren“. Das klingt doch gut, keine Nazis mehr…

Es tut auch weh zu sagen: Ihr kriegt alle Waffen, die ihr braucht, damit ihr den Krieg gegen den Aggressor gewinnt oder wenigstens nicht verliert, selbst wenn das brutale Schlachten noch Jahre dauern sollte.

Es tut immer weh, wenn man etwas tun sollte. Folglich möchte man sich verkriechen. Weg mit der Realität, die gefällt mir nicht. Und so verkriechen sich die Opportunisten in die hintersten Winkel. Betrifft es mich denn? Nur indirekt. Nochmal Glück gehabt. Also schaut gefälligst, dass ich nicht noch mehr betroffen werde. Was sollte man dazu noch sagen? Lohnt sich nicht weiters.

Warum also verdammt muss ich diese moralische Bürde tragen und soll mich obendrein auch nicht verkriechen? Das sind doch Idioten, diese Ukrainer! Warum ergeben die sich nicht endlich? Dann hätte ich wieder meine Ruhe. Kann man diese Position im Ernst als utilitaristisch bezeichnen?

Lieber rot als tot, war doch schon früher eine hübsche Parole. Nur was soll „Rot“ eigentlich sein? Es ist krass, wie lächerlich und komplett unglaubwürdig sich die Linke macht, wenn sie sich dem durch und durch korrupten, faschistoiden, imperialistischen Ausbeutersystem Putins andient. „Manche meinen lechts und rinks kann man nicht velwechsern, werch ein illtum.“ Ja, genau, Xi Jiping ist schliesslich auch ein Genosse…

Woher kommt denn all diese Scheisse? Immerhin kann ich hier als Hausherr heute noch klar und deutlich von Scheisse reden und muss nicht moralisierend Sch…se schreiben. Oder Sch***se. All dieser politisch korrekte Ballast, diese Wokeness, tue ich mir nicht an, auch wenn ich dann irgendwann als Minderheit mundtot oder schlimmer gemacht werde. Was soll es bringen, wenn Weisse keine Rastafrisuren tragen dürften? Wenn gut gemeinter Antirassismus in Rassismus abgleitet, dann, spätestens dann, ist doch alles futsch. Womit wir wohl wieder bei der Moral wären.

Ist denn die Moral überhaupt zu retten?

Ich sage nein. Denn es gibt keine absolute Moral, keine Moral an sich. Nur überall wohlfeilen Schund, der sich mit diesem Kampfbegriff, dieser Waffe schmückt, um erfolgreicher zu sein.

Wenn es keine Moral gibt, was bleibt dann?

Nun es bleibt der Krieg. Immer wieder von neuem. Immer und immer wieder.

Denn der Mensch, dieses soziale Wesen, lebt in Gruppen, sprich Staaten, etc., die sich durch widersprechende Ziele auszeichnen – bis es knallt.

Zwischengruppenkonflikte.

Sozial heisst eben leider nicht prosozial. Es bedeutet nur: lebt gerne in Rudeln.

Wenn wir diesen ewigen Krieg nicht wollen, müssten wir wohl bald unsere Freiheit opfern – eben weil es keine Moral an sich gibt. Weil dann die Mafia, der Stalinist, der heilige Krieger, das Skrupellose ganz offensichtlich mit Leichtigkeit den Wettkampf der Systeme gewinnt. Ist das denn so?

Wer blaugelbe Schuhe trägt oder ein leeres Blatt Papier in die Luft hält, wird verhaftet.

Die Zukunft würde also so schöne Dinge wie Rechtsstaat und Demokratie ganz einfach zerstampfen. Und wer das begriffen hat, weiss natürlich, dass der Feind von Rechtsstaat, Demokratie und Pressefreiheit in den Diktaturen jenseits unserer Grenzen zu finden ist.

Aber: Vor allem hockt er leider in diesen verrückten Ideen von Freiheit schon drin. Die Menschen im Westen scheinen dieser Bürde der Freiheit immer mehr überdrüssig. Man hat die Schnauze voll von Bürgerpflichten. Die da oben machen sowieso, was sie wollen. Es nützt eh alles nichts. Der Westen ist primär an allem schuld. Alles nur eine Verschwörung.

Die Lösung nennt sich Autokratie. Und auch Oligarch klingt doch gar nicht sooo schlimm.

Wenn man diese Müdigkeit Dekadenz nennen kann, dann hat Putin in diesem Punkt recht: Der Westen ist dekadent. Noch besteht ein bisschen Hoffnung, dass er sich verschätzt hat.

Der wahre Feind hockt also im Innern. Sogar in meiner Schädeldecke. Er ist überall und er ist übermächtig.

Die wahre Front verläuft quer durch unsere Gehirne und Putins Propagandaapparat weiss das.

Unser Gehirn ist die Kommandozentrale unserer Natur und es optimiert den Nutzen für den Träger in einem sinnfreien Spiel. Sprich: Der Evolution ist die Idee der Freiheit vollkommen egal, solange sie sich nicht wirklich als Vorteil in ihrem Sinne erweist. Diese Natur, deren Existenz die Soziologen gegen alle Evidenz leugnen und immer wieder hinwegwünschen. Als wäre die Freiheit ganz einfach schon unser Schicksal, als wäre alles hier nur ein wunderschönes Wunschkonzert. Und die Gegner der Freiheit, gerne Populisten genannt, hätten einfach lediglich ein falsches politisches Programm.

Der „Mensch“ aber ist vor aller soziologischen Seminarerfahrung ein zutiefst hierarchisches Wesen. Wie das Huhn. Ein Huhn hackt auf dem anderen herum.

Es will entweder herrschen oder beherrscht werden. Es will nicht „mitentscheiden“ müssen! Es will geführt werden oder führen. Und wenn nötig – auch in den Abgrund. Die Zerstörung liegt in unseren Genen. Die Natur ist gefrässig. Der Kampf ums Überleben hat uns zu sehr effizienten Zerstörern gemacht. Jetzt steht der Atomkrieg vor der Tür. Nuklearer Winter.

Der Lack ist ab. Die Bomben werden scharf gemacht.

Ha! Ob das Spiel doch noch eine Weile weiter geht? Weiss denn jemand die Lösung?

Jedenfalls. Ein einzelner Oberoligarch kann praktisch im Alleingang entscheiden. Würde es denn Widerstand unter den Generälen geben, wenn…?

Der Kampf für die Idee der Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaat wird entweder geführt oder es wird die ewige Herrschaft der Sonnenkönige kommen. Die Herrschaft dieser Psychopathen, die Sklaven halten, die sich in ihrer grausamen Willkür gefallen und sich mit Wonne gegenseitig weiterhin bekriegen werden. Wie schon vor 5000 Jahren.

Oder doch lieber den nuklearen Winter?

Soweit Hull, vielmehr das, was ich, in die Haut dieses Spinners geschlüpft, herausfinden kann. Dachte Tom. Hm. Der alte Hull neigte immer zu extremen Ansichten und Urteilen. Verstanden hat ihn wohl auch deshalb niemand. Er wollte gar den Zufall für immer aus der Welt verbannen. Und doch tat er schliesslich nichts – ausser Kaffee kochen. Immerhin nicht den Schlechtesten.

PS: Schön und gut, aber oberlehrerhaft und wenig hilfreich… (Luca)

PPS: Ja Luca, Tom bleibt ein Notnagel. Ohne Hull ist die Welt ein trauriger Ort. (Grüsse, Lisa)

The Scheining

Und ich soll Sie also einfach nur Tom nennen?

Ja, das ist perfekt.

Hm, jeder hat doch einen Nachnamen, zum Zwecke besserer Erkennung.

Ja, Sie meinen Tom Cruise und Tom Kaulitz?

Ähm, ja, zum Beispiel.

Okay, ich verzichte auf bessere Erkennung. Tom – und fertig.

Äh… Also, Tom. Dann lassen Sie uns mal anfangen. Ottokar Schlotterbeck bereute bereits ein wenig, den merkwürdigen Alten um ein Interview gebeten zu haben…

Klar.

Sie wissen, ich beabsichtige eine Biografie über Hull zu verfassen. Und man sagt, Sie seien einer der letzten noch lebenden Zeitzeugen und einer, der ihn wirklich gut kannte.

Zeitzeuge? Haha. Ja, Hull. Den kannte ich allerdings. Wissen Sie, ich selbst wollte früher mal eine Biografie über ihn schreiben.

Ja…?

Nun, ich bin gescheitert.

Ähm, inwiefern? Was lief schief?

Was schief…? So ziemlich alles. Wissen Sie, Hull ist, war, nicht fassbar.

Erzählen Sie.

Nun, Herr Schlotterbeck, richtig?

Ja.

Herr Schlotterbeck, Hull hatte zu viele Gesichter, Facetten, zu viele Ideen.

Dabei wollte er doch die Welt erklären, indem er alles Existierende auf wenige Dimensionen reduzierte? Oder hab ich da was falsch verstanden.

Äh, ich denke… Hull wollte gar nicht die Welt erklären. Wissen Sie, er wollte sie nur begreifen.

Ist das nicht dasselbe?

Dasselbe? Nun ja, Worte… Haha. Worte.

Schlotterbeck rümpfte die Nase.

Was Worte?

Was Worte? Hahaha. Sehen Sie, Herr Schlottermeck. Ist das nicht komisch? Ich jedenfalls muss immerzu lachen.

Tom…? Alles okay?

Aber sicher. Haha. Also wenn Sie mich fragen, und das tun Sie ja, oder? Dann, haha, hat Hull etwas anderes gewollt als es nach aussen hin scheint. Hätte scheinen können, oder wie würde man korrekt sagen, keine Ahnung? Hören Sie, ich möchte Sie nicht verwirren. Aber worum es geht, worum es ja eigentlich immer geht im Leben, das ist doch: sein eigenes Dasein zu begreifen – und natürlich dieses auch zu geniessen. Keine Frage, begreifen und geniessen. Das war eigentlich auch bei Hull so. Wenn Sie meinen, er habe versucht, die Welt zu erklären, irgendwelche Theorien rauszuhauen, wie das Universum entstanden ist oder so was, ja, dann sind Sie leider auf dem Holzweg. Das wirkte nur manchmal so, wenn man nicht genau hingehört hat.

Hm. Das Universum, die Physik, die Philosophie, die Kybernetik, die Neurowissenschaften – das waren doch seine Interessengebiete. Er wollte doch all das vorhandene Wissen integrieren und aus dem Kondensat eine möglichst simple Welttheorie entwerfen. Eine die jeder versteht. Und Sie Tom, Sie waren doch zugegen, damals. Als Hull noch dozierte?

Hull dozierte? Hahaha. Ja, er dozierte schon, irgendwie. Aber er war alles andere als ein Polyhistor. Sicher er wusste und konnte dies und das. Verstehen Sie, Schlotti, Hull war vor allem ein Showman, ein Zauberer, ein smarter Privatlehrer, ein Bastler und Tüftler. Und so hat er zum Beispiel merkwürdige kleine Androiden hergestellt, die sogar sprechen konnten. Das war unglaublich, ich hab’s mit eigenen Augen und Ohren… ja, aber was ich sagen wollte: Hull war ein Magier – und ein Verrückter.

Ein Ver…

Ja, Mann, wer kauft sich schon eine Spezialkamera für zwanzigtausend Euro um fallende Würfel in Superextremzeitlupe anzuschauen?

Davon habe ich gehört, ja. Ging es nicht um den Nachweis des Zufalls?

Ja, nein, umgekehrt. Aber das ist eigentlich völlig egal. Hören Sie, Schlott… äh, Otto? Darf ich Otto sagen?

Ottokar.

Ottokar, gut. Also Otti, hör mal, der Hull hatte einfach die Schnauze voll von Zufällen. Diese konnten so grausam sein. Und deshalb wollte er sie loswerden.

Hm.

Nach aussen gab er sich wissenschaftlich. Versuchte seriös daherzukommen. Aber im Grunde wollte er nur alles bequemer machen.

Bequemer?

Ja, Stellen… äh, stell dir vor, Otti, wenn’s keinen Zufall mehr gäbe.

Hm, alles wäre voraussehbar.

Nun ja, nein. Nur wenn man auch die Gesetze hinter allem kennen würde. Und genau das ist ja die Frage: Benennen wir die Ereignisse als zufällig, weil wir zu dumm oder zu faul sind, die wahren Gesetze herauszufinden?

Ähm…?

Ja, Otti. Und dann die Willensfreiheit… Aber echt, eigentlich hab ich keinen Bock mehr auf all den Schmonzes. Ehrlich, ich zweifle, ob du der Richtige bist für diese Biografie.

Schlotterbeck war schon ein Weilchen ziemlich verwirrt. Jetzt war er grad vollends baff.

Otti?

Ähm, was…?

Ja, äh, ich weiss auch nicht. Fangen wir woanders an.

Jep.

Ähm. Hat Hull wirklich einen Mord begangen? Er war doch ein paar Jahre im Gefängnis? Was wissen Sie darüber?

Ich war dabei, ja.

Okay?

Nun, was soll ich sagen. Mich hat er ja umgebracht. Und mein Alter Ego gleich dazu. Das fand ich dann doch heftig. Ich meine, gleich doppelt ausradiert zu werden. Wem schmeckt das schon?

Ottokar Schlotterbeck erstarrte. Sitze ich hier in einem Café mit Tom oder in einem Irrenhaus mit einem Psychotiker?

Jaja, Otti, da staunste. Denkst wohl, wir seien in der Klapse auf einem schlechten Trip. Nee, nicht wirklich.

Oder in einem Horrorfilm.

Horrorfilm…? Ich bitte dich. Aber. Das ist, hör mal Otti, Horror, das ist gar nicht so eine schlechte Idee. Da lässt sich bestimmt noch was draus machen.

Imbranato

Paura di cadere ma voglia di volare

La vita riavvolta

Tutto questo è sfortunatamente troppo poco

Il meno non è sempre il più

Eternità e finitezza

Combattono nella mia testa

Ma io non sono nessuno

Rimangono solo stupidi desideri

Nostalgia senza parole

Rimpianto senza parole

Solo un dolore alle budella

E risate insensate e sguaiate

Assurdi desideri di un imbranato

Eppure ne è valsa la pena

Per rendersi conto di ciò che la vita avrebbe potuto essere

Ma non sarà mai

Però mi piace essere – un tale imbranato.

PS: Stefan ha ragione – generalmente (il suo commento). Ma se non mi accettassi come un fesso, forse non sarei già vivo.

Ace in the Hull

Es klingelte. Tom lächelte. Vorfreude ist doch immer…

Scheisse? Luca?

He, Tom. Was ist denn das für eine Begrüssung.

Mit dir hab ich nicht… Habe jemand anderes erwartet.

So? Komm ich also ungelegen?

Könnte man schon so sagen. Eigentlich. Ähm, Luca, du siehst immer beschissener aus.

Hör mal…

Ein Strich in der Landschaft. Ich puste mal – dann fliegst du wohl wech.

Tom, kann ich rein kommen?

Hm. Wenn’s sein muss.

Die beiden Alten schlurften den Flur entlang und bogen dann in die Küche ab.

Tom schob Luca einen abgewetzten Küchenhocker hin. Setz dich. Was liegt an?

Wen hast du denn erwartet?

Geht dich gar nichts an. Irgendwie verschiebt sich hier halt ein, ähm, Rendez-vous dank deiner gütigen Intervention.

Wie verschiebt sich…? Und wenn die Holde doch gleich kommt?

Hm, in diesem Falle störtest du noch ein bisschen mehr. Falls.

Hast du dir ein Date… vielleicht nur, äh, vorgestellt, Tom? Würde mich ja nicht wundern. Alter Knabe. Du wirst auch nie wirklich erwachsen.

Erwachsen? Was hat denn das damit… Luca, nochmal, was willst du, ausser mich stören.

Ich wollte mich beschweren.

Beschweren?! Bei mir? Na, das möchte ich hören!

Ja, Tom. Hör zu. Du hast hier alles an die Wand gefahren, alles ruiniert.

Spinnst du? Hier ist doch alles in bester Ordnung. Schau dich um. Was meinst du überhaupt?

Tom. Na, die Performance. Hier ist tote Hose.

Aha.

Warum hast du überhaupt unter zwei verschiedenen Namen publiziert?

Ach, das meinst du. Keine Ahnung. Der Schweizer Fotograf wollte sich hier auch ein bisschen einbringen. Dachte, das kann nicht schaden.

Hat es aber. Es gibt so was wie eine Leserbindung an den Autoren. Wenn die Leute Tom wollen, dann wollen sie Tom und nicht so einen Provinzknipser. Den kennt doch keiner.

Hm, Luca. Mir geht es doch nicht um den Erfolg…

…Mir aber. Wozu habe ich denn sonst all die Seminare bei Hull besucht?

Das frage ich mich auch.

Hör mal, Tom. Und dann meldet sich monatelang keiner aus Hulls Labor. Weder Tom noch dieser… wie heisst er noch gleich?

Das ist doch egal. Schöpferische Pausen…

Haha, schöpferisch! Und als Höhepunkt jetzt noch Lyrik!

Und? Was hast du gegen Lyrik?

Ja, Mann! Lyrik liest doch kein Mensch!

Hm? Mir war aber danach. Und du weisst, oberstes Gebot ist mir stets Authentizität.

So!? Und dann schreibst du noch in einer völlig unverständlichen Sprache! Lyrik in Chinesisch! Spinnst du jetzt vollends! Die Einschaltquoten sind komplett im Keller.

Luca, das ist Italienisch, nicht Chinesisch. Und Stefan fand’s nicht so schlecht.

Stefan? Imbranato ist jedenfalls der Tiefpunkt der Hullschen Publikationen. Niemand liest das. Ein labernder Fotograf. Lyrik, in Italienisch. Ich fass es einfach nicht. Wie konntest du so tief sinken, Tom? Du hast alle, ich sage es nochmal, du hast alle Regeln und Prinzipien der Publizistik in die Tonne getreten. Alles komplett falsch gemacht.

So? Luca. Ich wollte nie Regeln und Prinzipien irgend eines Fachs befolgen.

Sondern?

Ein bisschen Spass haben und wenn es was zu Heulen gibt, halt rumheulen.

…?

Hm.

Das ist alles?

Già.

?!

First Kontakt

Schlotti! Tom sprang auf und fuchtelte mit den Armen.

Schlotterbeck blickte in seine Richtung und als er den Verrückten sah, wie er lächelnd herumzappelte, musste er selber lächeln.

Schlotti! Schlotti! Komm rüber!

Als Schlotterbeck bei Toms Tisch auf der Terrasse des Cafés ankam, war ihm nicht nur wohl ums Bauchfell. Alle Augen waren auf ihn und Tom gerichtet.

Setz dich, Otti. Was ein Ding, dass du gerade hier vorbei gehst! Sag, kommst du voran mit der Hull-Biografie?

Äh, guten Tag, Tom. Nun. Ja. Nein. Ich…

…Super. Du musst einfach dranbleiben. Weisst du, wenn du dran bleibst, dann schaffst du es auch. Hahaha.

Ottokar Schlotterbeck musterte sein Gegenüber und hegte sogleich den Verdacht, dass Tom wieder einmal eine manische Phase durchlitt.

Tolles Wetter, super Stimmung hier. Und den Kaffee hier, musst du probieren. Wart, ich bestell dir… He, Bedienung! Schlotti, erzähl mal. Kannst du eigentlich meinen Input brauchen für dein Projekt. Ich meine, ging dir ein Licht auf dabei? Hast du die Lösung?

Lösung? Welche Lösung…

Sie wünschen.

Ja, wunderbar. Einen herrlichen Espresso für den Herrn hier. So wie meiner, hören Sie, der muss mindestens so gut werden, wie…

…Sonst noch was?

Sonst. Ja, klar. Mir auch noch mal einen. Moment. Trank seine Tasse aus. Können Sie gleich mitnehmen, dann müssen Sie einmal weniger, Sie wissen schon. Hahaha.

Tom?

Jaha?

Ähm. Bist du okay?

Ob ich okay bin? Was für eine Frage! Aber, hm. Ich kenne diese Frage. Wenn ich gut drauf bin, werde ich das gefragt. War schon in der Klapse so.

Übrigens. Von wegen, ähm, Klapse. Ich habe gestern die weltberühmte Action-Künstlerin Regina Engelhardt interviewt. Für einen Exklusivbeitrag über ihre steile Karriere, aber auch im Hinblick auf das Hullprojekt. Sie war ja, merkwürdig genug, vor ihrer Zeit als Künstlerin, Ärztin in der Psychiatrie und soll den sagenumwobenen Hull behandelt haben.

Ja. Die. Die Engelhardt. Unglaublich, nicht? Die hat ihr Ding gemacht. Ein Skandal jagte den andern. Ihre Werke stehen jetzt in den grossen Häusern für Modern Art herum.

Eher Postmoderner Quatsch, aber eben…

…Sie war auch als Ärztin einmalig. Ich verdanke ihr einiges.

Wie denn?

Sie hat mir zugehört.

Aha.

Ich konnte ihr all meine Thesen vorlegen. Ich konnte sie vollquatschen. Ich habe ihr die Geschichte Hulls anvertraut. Und sie hat, wohl als einzige, ja, sie hat’s begriffen. Sie hat alles verstanden, Schlotti. Das war, wie soll ich sagen, das war so unglaublich schön. Ich meine, wenn einer, sagen wir eine, wenn eine dich versteht. Richtig versteht. Das ist der Sinn am… ähm, vom Ganzen. Mehr geht nicht. Verstehst du? Wenn es Zoing! macht. Wenn die Antennen sich berühren, da draussen, und man weiss, man weiss, hier und jetzt bin ich angekommen. Hier und jetzt endlich hört mir einer, ähm, eine zu. Ich werde verstanden in vollstem Umfang. Werde ernst genommen. Es gibt tatsächlich die Möglichkeit, realen Kontakt zu einem anderen Wesen herzustellen. Verstehst du das, Schlotti? Die autistische Welt des eigenen Gehirns kann tatsächlich manchmal überwunden werden. Verstehst du, Schlotti!?

Ähm, vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Hier, die Espressi meine Herren, dürfte ich dann gleich einkassieren?

Love Store

Als Tom seine Wohnungstür öffnete und er sie auf einmal so ganz unvermittelt vor sich stehen sah, bekam die krumme Raumzeit tatsächlich einen zusätzlichen Knick, obwohl das eigentlich gar nicht möglich war. Ein nachtblauer Blitz, unsichtbar, und ein zuckersüsser Dur-Akkord, unhörbar, durchstreiften sein ruheloses Hirn, liessen ihn freudig und töricht aussehend dastehen. Er sagte nur: Hallo, und seine Stimme brach.

Lisa begann zu lächeln: Tom, wie schön… Sie kam sich beinahe wie ein pubertierendes Mädchen vor, verlegen und doch tollkühn, alles rosa, alles aufregend.

Er verlor sich in ihren blauen Augen, tauchte hinab bis in ewige Dunkelheit, als könne er dort ihr Wesen ergründen. Wieder auftauchend sah er, wie Lisa ihn mit jenem leicht schielenden Blick zärtlich festhielt. Und lächelte. Diesen Blick kannte er. Es waren wohl fünfzig Jahre, mein Gott, tatsächlich fünfzig Jahre war es her, seit sie ihn zum ersten Mal damit betörte. Diese bedingungslose Öffnung, diese verwegene Verletzlichkeit.

Hmmmm…

Schön, dass… hm, ja, schön, dass du da bist, Lisa.

Ja… Ich komme mir vor, wie damals… verstehst du?

Natürlich verstand Tom. Ihm ging es ebenso. Er nickte. Sie umarmten sich, erfuhren die Vertrautheit ihrer Nähe und doch waren die Berührungen nach all den Jahren wieder aufregend. So standen sie minutenlang, bis Tom sich mit einem kleinen Seufzer von Monalisa löste: Komm doch rein, Lisa. Es gibt Kaffee und Kuchen.

Mein Kaffee ist zwar nicht so gut wie jener damals beim alten Hull, aber Coffein ist drin.

Und Erdbeertorte! Das ist wunderbar, Tom.

Hm, Lisa.

Ja?

Ach, nichts…

…komm schon, Tom. was willst du mir sagen?

Ich finde es, hm, finde es wunderbar, dass wir uns jetzt wieder sehen und ja, auch wieder, ähm, mögen.

…Aber?

Nichts aber. Nur, du weisst ja, ich bin leider kein so toller Yogalehrer…

Hahaha. Tom, nein sorry dass ich lache. Aber das mit diesem sexy Yogalehrer, das war keine Liebe. Ein Begehren, ja. Aber ich bin da jemandem nachgerannt, der nur an sich selber dachte, sich nur selbst liebte. Und ich wollte als seine Freundin wohl etwas Besonderes sein. Aber das waren leider verschenkte Jahre, hm, sogar Jahrzehnte. Nein, mein Freund, tief im Innern, im Herzen, wusste ich immer, dass du der Richtige für mich gewesen wärst. Ja, du bist der Richtige für mich, Tom.

Lisa. Wir, wir… haben keine Zukunft mehr. Wir sind bald achtzig.

Tom, Tom. Das sind nur Jahre! Das ist nur Zeit. Zeit ist aber nicht wichtig. Wichtig ist einzig, dass wir beide zueinander gehören. Das allein zählt. Es ist vollkommen egal, wie lange es dauert. Lisa stellte ihre Kaffeetasse zur Seite und küsste Tom.

Tom dachte nur noch: Wie wunderbar, das Glück hat mich gefunden. Ich fliege, oh oh. Am liebsten würde ich jetzt auf der Stelle sterben.

Spezialoperation und Frieden

Doch. Das einzig Gute an der Sache war, dass diese verrückte Maschine wirklich funktionierte! Die Zeit konnte tatsächlich zurückgedreht werden, aber irgendwie auch – nicht. Wie bei den Labormäusen, die jünger wurden und trotzdem auf der gnadenlosen Zeitachse munter weiter vorwärts tänzelten. Und die kommende Generationen, bei Mäusen wie bei Menschen, von ewigem Leben träumen lassen…

Jedenfalls sass er wieder da, der Alte, in seinem Sessel wie vor zwanzig Jahren und meinte: Du Dummkopf!

Ja, äh…?

Was sollte das werden, Tom? Dein Beitrag, in welchem du vorgibst, mein Denken zu kennen, zu nützen und für irgendwelche merkwürdigen Erkenntnisse zu gebrauchen. Da kam nichts als Ratlosigkeit und wirres Geschimpfe heraus. Echt, das sollte nun mit meinem Namen, hörst du, mit meinem Namen in Verbindung gebracht werden? Niemals hätte ich so ein Durcheinander, so einen geistigen Durchfall, so einen, ähm, Schwachfug auch nur ansatzweise…

…Ja, Hull, du hast ja Recht. Aber die Zeiten sind schlecht. Und ich hab’s wenigstens versucht.

Versucht? Ja, was denn? Rumzujammern?

Ja, vielleicht. Vielleicht muss man im Krieg erstmal jammern, damit man sich der Realität annähern könnte.

Ich sag dir, was du hättest sagen sollen in meinem Namen. Warte. Hull seufzte und überlegte einen Moment.

Hull, dass du wieder da bist, das grenzt an, nein, das scheint mir… eigentlich ist das doch unmöglich.

Tom. Unterschätze mich nicht. Dich auch nicht. Was sollte schon unmöglich sein? Entdecke die Möglichkeiten.

Ah, hm.

Aber jetzt hör mal, was ich dir zu deiner verunglückten Meditation über den Krieg mit auf den Weg geben wollte. Folgendes: Krieg ist nur die logische Fortsetzung der Zivilisation.

Hull schwieg.

Und?

Was und.

Ja, ist das alles.

Was willst du mehr hören. Die Entwicklung der Menschheit geht voran mit seiner beispiellosen Vermehrung. So viele Individuen, wie wir nun mal sind, müssen sich organisieren, müssen organisiert werden. Es brauchte auf einmal Staaten, damals schon vor tausenden von Jahren. Die garantieren für relative Ruhe, Herrschaft, Stabilität und so was wie Fortschritt, vor allem in technischer, kaum aber in moralischer Hinsicht. Aber ohne den Staat, ohne den Sonnenkönig der alten Ägypter mit seinem Sklavenhaltersystem, hätte es keine Kornspeicher gegeben, sondern nur Mord und Totschlag, um den gesellschaftlichen Mehrwert sofort an die Stärksten zu verscherbeln. Ich hege durchaus gewisse Sympathien für Anarchisten. Denn sie legen den Finger in die am stärksten blutende Wunde: Es geht immer um Macht, ganz zuvorderst um die Staatsmacht. Die Ökonomie ist zweitrangig. Aber den anarchistischen Traum will ich nicht ansatzweise verwirklicht sehen. So berechtigt ihre Kritik an der Brutalität jeglicher Macht ist, so sicher ist andererseits, dass eine schiere Masse von Milliarden Menschen nicht ohne die Machtausübung Weniger in Frieden leben könnte.

Nun aber kommt der Punkt. Die logische Fortsetzung dieses inneren Friedens sind zunehmende Friktionen zwischen den Staaten. Und das bedeutet eine Weiterentwicklung unserer Zivilisation, in der organisierte zwischenstaatliche Gewalt sagen wir fast zur logischen Konsequenz wird. Im Staat herrscht im Idealfall Ordnung, egal ob es sich um eine Demokratie oder eine Diktatur handelt. Aber zwischen den Staaten, natürlich gibt es Bündnisse, Verträge und schöne Worte, aber in Wirklichkeit herrscht zwischen diesen Gebilden immer kalter Krieg. Anarchie auf höherer Stufe sozusagen. Und so wurde und wird die Kunst des Krieges stets vorangetrieben. Aus kaltem Krieg wurde und wird immer wieder ein heisser Krieg. Das ist unsere Bestimmung, unsere Zivilisation, unser Blackout, den wir nicht überwinden können. Bis heute jedenfalls und die Aussichten stehen schlecht. Hab ich Recht oder wie?

Hm, das ist das Grundsätzliche, aber was ist mit der Ukraine?

Was soll sein? Verstehe das Grundsätzliche, dann begreifst du wohl auch die besonderen Fälle.

Wo wird das enden?

Keine Ahnung. Vielleicht endet es nie. Vielleicht dann, wenn es einer Macht gelingt, den perfekten Krieg zu führen. Heisst, die Konkurrenten komplett auszuschalten, ohne selbst vernichtet zu werden. Der perfekte Atomschlag sozusagen.

Scheisse, Hull. Hör auf!

Gut. Was tust du jetzt?

Gegen den Krieg demonstrieren…?

Ja, tue das. Es nützt wohl nichts. Aber es würde dir so was wie Würde verleihen.

Tom wollte nicht resignieren, nicht wirklich, auch wenn seine Stimmung nahe Null war. Hull grinste nur.

Million Dollar Barbie

Ottokar Schlotterbeck sass an seinem Schreibtisch und sinnierte vor sich her. Versuchte zumindest die wirren Gedanken in seinem Kopf zu ordnen. Nun sein Schreibtisch war zugleich auch Küchentisch und Esstisch – sein Tisch für alle Fälle. Wir müssen uns Schlotterbeck leider als verarmten Schriftsteller vorstellen, der sein täglich Brötchen mühsam mit lokaljournalistischem Kleinkram verdiente. Und der doch immer noch, nach all den Jahren des Misserfolgs, vom grossen Durchbruch träumte. Aus unerklärlichen Gründen hatte er sich in den Kopf gesetzt, die alles erklärende Hull-Biografie zu schreiben. Eine die der Welt die Augen öffnen würde, wenn sie denn welche hat.

Doch sein Held, dieser Hull, blieb ihm leider ein Rätsel, schlimmer noch, ein Phantom. Die Daten, die er bis hierher über das Phantom gesammelt hatte, waren dürr, ohne Leben. Wir wissen bereits, dass Schlotterbeck deshalb Toms Erlebnisschatz anzapfen wollte. Jener Tom, dem eine lange Bekanntschaft mit Hull nachgesagt wurde.

Schlotterbeck kaute auf seinem Bleistift. Hm, wenn ich Tom ein Honorar geben könnte, vielleicht wäre dann die Sache ergiebiger? Doch den Gedanken schob er gleich weit von sich. Denn da war kein Geld.

Auf einmal schrullerte sein Telephon. Schlotterbeck.

Luca. Hallo Herr Schlotterbeck. Ich äh…

Hallo. Kennen wir uns?

Ähm, kann sein, kann aber auch äh…

Ja, was kann ich für Sie tun, Luca.

Tun, ja. Ich, äh, habe gehört, wissen Sie, man hört ja so allerhand, ähm, dass Sie versuchen mit Tom ins Geschäft zu kommen.

Was? Wer sagt so was. Und was hätte das mit Ihnen…?

Nun, Herr Schlotterbeck. Ich kenne Tom wie kaum sonst einer. Verstehen Sie? Also ich könnte Ihnen eventuell weiterhelfen.

So. Und wie haben Sie sich das vorgestellt?

Ganz einfach. Wir beide treffen uns auf einen Kaffee und ich erzähle Ihnen das, was Sie gerade brauchen.

Was ich gerade brauche?

Klar.

Aha. Und woher wollen Sie wissen, was ich so brauche?

Äh, das finden wir dann gemeinsam heraus, würde ich mal sagen.

Und was wollen Sie von mir – dafür?

Ich denke, das käme drauf an.

Drauf an?

Äh, hören Sie, ich würde mal sagen, Sie wissen schon, wie der Hase läuft.

Schlotterbeck hatte, sagen wir‘s mal deutlich, die Schnauze voll. Voll von all den Krämerseelen, die nur auf Abzocke aus waren.

Und? Wann treffen wir uns?

Luca, vielleicht nie. Schlotterbeck hängte grusslos auf. Er würde doch lieber noch einen letzten Versuch unternehmen, Tom zu interviewen. Das Beste wäre natürlich, Tom würde ihm die sagenumwobenen Notizen Hulls überlassen. Die Tom anscheinend besass. Nur dann hätte Schlotterbeck wohl eine reelle Chance, diese Biografie zu schreiben.

Er kaute weiter an seinem Bleistiftstummel. Wie sollte er vorgehen. Anrufen? Tom galt jenen – wenigen – die ihn zu kennen meinten als Suchender, als etwas verrückter Sinnschnüffler. Doch Schlotterbeck hatte eine andere Meinung. Tom schien ihm entweder ein zynischer Schwindler und Blender zu sein, der sich mit allen Mitteln Zugang zu Hulls Geheimnis verschaffen wollte. Oder ein hilfloser Dummkopf, der nur zufällig nicht als Stümper entlarvt worden ist. Bis jetzt. Vielleicht war Tom aber auch eine bizarre Mischung zwischen einem Blender und einem Dummkopf. Das könnte seinen Misserfolg erklären. Ja, so in etwa. Schlotterbeck lächelte. Schliesslich würde er diesen Tom knacken – mit seinem Verstand, mit seiner Intelligenz.

Und so griff er wieder zum Telephon und wählte Toms Nummer.

Finding Everland

Da sass er mit seinen wenigen schlohweissen Strähnen, die vom fast kahlen Schädel bis zur Schulter herunterhingen. Sein Gesicht grau und zerfurcht, die Augen glasig, sein Mund trocken – ein Anblick wie eine Mumie.

Das war gar nicht so schwer. Man braucht nur die aus dem Gleichgewicht geratene DNA-Homöostase zu stabilisieren. Mit drei verblüffend einfachen gentechnischen Eingriffen ist die Sache gegessen. Allenfalls, wenn man das dann möchte, kann man alle zehn Jahre diese Korrekturen der ontogenetischen Architektur wiederholen. Auffrischen sozusagen, wenn Sie verstehen.

Architektur… ja, genau. Äh. Erzählen Sie doch bitte, wie diese, äh, Eingriffe, ähm, wie Sie das ganz konkret machen.

Hm. Wissen Sie, Schlotterbeck. Wenn ich Ihnen die Details erklären würde, wäre das langweilig für Ihre Leser. Sie wollen doch kein Fachbuch der Biogerontologie schreiben, oder?

Nein. Ja. Sie haben völlig… Beschreiben Sie doch einfach, äh, ich meine mit einfachen Worten, was Sie gemacht haben.

Einfach? Nun. Wissen Sie, eigentlich bin ich erst 103 Jahre alt. Und ob ich das nicht auch wäre, wenn ich nichts gemacht hätte? Sie verstehen. Ein Beweis, dass die Sache funktioniert, bin ich noch lange nicht. Allerdings. Das Besondere daran war…

…Ja?

Nun, ich war bereits tot. Wurde dann kryokonserviert und meine Androiden erledigten die bereits gut vorbereitete Arbeit. Vielleicht taugt dieser Fakt sozusagen als Beweis fürs Funktionieren meiner Methode.

Hm, hm. Was haben denn ihre ähm, diese Androiden gemacht?

Nicht viel. Sie mussten diese Maschine da drüben anwerfen und mir die resultierende Brühe injizieren.

Schlotterbecks Blick streifte die Maschine auf dem Sideboard. Die da?

Ja.

Äh, äh, die, ähm, die sieht aus wie eine Espressomaschine…?

Ja, Espresso mag ich tatsächlich. Der Alte lächelte zum ersten Mal.

Hull, ich werde den Verdacht nicht los, dass Sie mich… dass Sie mich… ähm…

…verarschen wollen? Aber nein. Verstehen Sie. Die Sache ist wirklich einfach. Restriktion und Ligation in den kritischen DNA-Bereichen ist heute ein Kinderspiel. Sie haben die Mäuse gesehen, die doppelt so alt geworden sind wie normale Mäuse? Eben. Und Sie sehen mich, Schlotterbeck. Und ich war es einfach leid zu warten, bis die Sache für Menschen marktreif wird. Ich meine, was heisst leid, ich hatte schlicht nicht mehr die Zeit zu warten. Meine Zeit lief ab. Also musste ich handeln.

Okay, verstehe. Ähm. Andere Frage: Was sind nun Ihre Pläne? Ich meine, wie lange gedenken Sie nun leben zu wollen. Oder, oder würden Sie sagen, Sie sind nun unsterblich?

Hull blickte zu Boden. Natürlich, es war ein Fehler, sich auf dieses Interview einzulassen. Das hatte er ja befürchtet. Auch Tom hatte ihm abgeraten, mit Schlotterbeck zu sprechen. Er schien ihm doch allzu beschränkt, mehr ein Depp als ein Wissenschaftsjournalist, als den er sich ausgab. Kein Wort über die gesellschaftlichen Implikationen dieser gentechnischen Lebensverlängerung. Sollte er ihm diese möglichen Konsequenzen um die Ohren hauen?

Wissen Sie, Pläne habe ich keine. Jedenfalls keine, die ich preisgeben würde. Und unsterblich ist man erst dann, wenn man alle schweren Krankheiten ausschliessen könnte und – vor allem – jegliche Unfälle. Ich meine, wenn ich heute auf die Strasse gehe und von einem Laster überfahren werde, dann war’s das wohl, würde ich meinen.

Tja, vielleicht haben Sie aber auch ein Gegenmittel gegen’s Überfahrenwerden…?

Breakfast for one

Hull sass ganz entspannt in seinem alten Lehnstuhl, den er von der Mutter seines Schwiegervaters geerbt hatte, und schaute sich vergnügt die Szene an, wie drei seiner Androiden wacker ans Werk gingen und seinen Frühstückstisch abräumten. Gut, normalerweise wäre das nicht der Rede wert gewesen, aber wir sollten doch in Betracht ziehen, dass Hulls Androiden im Gegensatz zur handelsüblichen Ware nur wenige Zentimeter gross waren. Insofern gestaltete sich das Abräumen nur schon eines einzigen Tellers als ein veritabler Kraftakt, wozu jeweils zwei der fleissigen Kerlchen benötigt wurde.

Diese Kleinheit seiner Kreaturen konnte man Hull schon, wie soll ich sagen, vorwerfen? Nein, das trifft’s nicht. Aber man konnte sich schon fragen, warum er denn auf solche Miniandroiden setzte. Wollte er damit etwa implizit zum Ausdruck bringen, wie schwach und bedeutungslos letztlich der Mensch sei, der diesen edlen Zwergen doch immerhin als schäbige Vorlage diente? Nun, wir können den wahren Grund jetzt wohl nicht wirklich erkennen. Spekulieren kann man ja immer, tja, und damit entsteht jeweils auch schöner, breiter Raum für Irrtümer, Fake News und Schlimmeres. Wie wir leider wissen. Deshalb lassen wir das Spekulieren und wenden uns gleich den beinharten Fakten zu.

Wozu auch die Tatsache gehört, dass Hull an diesem wunderschönen Morgen dachte: Eigentlich sind Androiden irgendwie die Krone der Schöpfung – geworden. Jedenfalls ist der Umgang mit ihnen doch äusserst angenehm. Sie meckern nicht, haben keine Lohnforderungen und den Begriff Streik kennen sie nur aus der misslichen und missgünstigen Welt der Menschen. Wie viel angenehmer wäre das Leben, wenn zum Beispiel Tom ein netter, freundlicher und zuvorkommendster Androide wäre…

Man hätte Tom richtig gutes Schreiben beibringen können. Er hätte, als Androide, sicherlich die schönsten Elogen und besten Plots für Krimis zustande gebracht. Ohne Zweifel! Es wäre ein Vergnügen gewesen, nach seiner Pfeife… also nach seiner Regie zu handeln. Stattdessen, wie Sie als leidgeprüfter Stammleser der tomschen Werke sicher bestätigen können, kamen all die bisherigen Versuche, den unsinnigen Drehbüchern Toms zu folgen, einer Höllenfahrt gleich, wie sie sich nur Zyniker vom Schlage eines Hieronymus Bosch ausmalen können.

Tom, seufzte Hull. Tom ist das Ende und der Anfang aller Müh und Plage, allen Ungeschicks und Misserfolgs. Es war kaum auszuhalten, täglich mitansehen zu müssen, in welchem Ausmass Tom die Pleite in Hulls Labor vorantrieb. Ich meine, wir sprechen von Hulls Labor. Einem Unternehmen, dessen Erfolg Millionen da draussen entgegenfieb…

Da wurde Hull auf einmal durch das Schrullern seines Telephons recht unsanft in seiner erhabenen Meditation gestört. Nein, Hull hatte kein Handy, neinnein, er gehörte zur aussterbenden Spezies jener, die noch einen Festnetzanschluss ihr eigen nannten. Seine Kommunikation hing also an einem veritablen Kabel fest, was den nicht unerheblichen Vorteil hatte, dass nie im dümmsten Moment der Akku leer war. Weil da ja gar kein Akku drin ist. Schwer vorstellbar, ich weiss. Aber irgendwie war das auch praktisch, damals als Telephone einfach noch funktionierten, jahrzehntelang, ohne Akkuwechsel, Softwareupdates, etc. Und TV war noch TV, nicht so eine hybride Mischung zeitverzögerter Signale auf irgendwelchen Displays, die genau dann den Dienst versagten, wenn die eigne Mannschaft gerade im Begriff war, ein Tor zu erzielen, wie einem ein Blick aufs Handy längst schon verraten hat, weil jener Dienst weniger zeitverzögert… Sie wissen schon, Sie kennen das ja.

Ich höre.

Hull. Alles gut bei dir?

Tom. Hallo.

Ja, dann… also was ich fragen wollte.

Ja?

Also, nur wenn es grad passt.

Nun sag schon.

Weisst du. Ich, also… ich, ähm, könnte ich vielleicht auch so einen Cocktail bekommen…?

Hm, seit wann mache ich Caipirinha? Das müsste ich wissen.

Nein, Hull, das nicht. Nicht Caipirinha.

Sondern?

Hm, ich weiss nicht, ja ist jetzt ein bisschen peinlich, ich weiss gar nicht, wie man dem sagt.

Nein, nein, peinlich ist das – nicht…

Also…

Also?

Ich meine diese, diese Injektion, dieses Zeugs, das dich älter, quatsch, jünger werden lässt.

Ach so.

Ja, geht das? Ich meine…

Tom, hast du ne Ahnung, was das kostet?

Kostet? Okay. Ich hab noch ne Kreditkarte, geht schon.

Gut, dann machen wir halt einen Termin.

Termin? Ich steh schon vor der Tür! Wir können gleich loslegen!

Die Haustür krachte auf und Tom stürmte in die gute Stube.

Der Alte muss an die frische Luft

Es klingelte. Hull öffnete und sah Lisa. Sie schmiegte und bog sich in den Wind, wie sie das immer tat.

Lisa.

Hull.

Komm rein. Was führt dich zu mir?

Hm, lass uns lieber spazieren gehen.

Spazieren gehen?

Ja, die frische Herbstluft tut uns sicher gut.

Das brauche ich nicht. Meine Gene sind restauriert und ich bin fit.

Ich weiss. Aber…

Hm, meinetwegen. Moment, ich zieh mir noch ne Jacke an.

Hmhm.

So. Los geht’s. Wo gehen wir lang?

Mir egal. Du kennst dich hier aus.

Okay, dann gehen wir in den Wald, zum Schützenhaus.

Ja.

Lisa?

Ja.

Alles gut bei dir?

Ja, klar. – Ach so, du meinst, ich komme wohl nur zu dir, wenn der Baum brennt.

Hm.

Nein, ist alles okay. Ich wollte dich einfach wieder mal sehen.

Was ist mit Tom?

Tom? Was soll mit ihm sein?

Na, ihr seid doch wieder zusammen. Seid ihr noch zusammen, oder…?

Ja, Hull. Sind wir.

Und?

Was?

Also Lisa. Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase… du weisst schon. Wie geht’s euch denn so?

Naja, Kinder kriegen wir keine mehr. Haha.

Der könnte von Tom sein.

Ja. Also, wir haben getrennte Schlafzimmer, wie sich das gehört. Und streiten tun wir auch ab und an. Sonst ist alles gut.

Klingt romantisch.

Was hast du erwartet. Es ist Tom. Er hat anderes im Kopf.

Was denn?

Er will unsterblich werden.

Ja, das weiss ich. Er hat mich auch schon genervt damit.

Kannst du ihm denn nicht helfen? Oder so tun als…?

Hm. Eigentlich wollte ich erst ein paar Jahre abwarten.

Plötzlich war ein Schuss zu hören.

Blöder Schiessstand. Ausgerechnet jetzt fangen die an zu ballern. Gibt’s hier keinen anderen Weg?

Gehen wir da lang. Dem Bach da lang.

Hm. Was abwarten?

Ja, ob es wirklich wirkt.

Hull, wenn ich dich so anschaue, dann bin ich mir eigentlich ziemlich sicher, dass es funktioniert.

Hm, das kann erst die Zeit zeigen. Wenn ich in zehn Jahren immer noch herumspaziere, dann könnte es irgendwie…

Hull. Es gibt doch objektive Marker?

Was für objektive Marker?

Willst du mich ver… Blutwerte, was weiss ich. Davon verstehe ich nichts. Aber du überprüfst das doch wissenschaftlich.

Hm. Und wenn ich das nicht tue?

Wie, und wenn…? Tust du etwa nicht?

Nun waren die Schüsse nur noch von Ferne zu hören. Die beiden Alten gingen dem Bächlein entlang. Es gurgelte und plätscherte. Das bunte Laub raschelte unter ihren Füssen.

Lisa. Wenn das alles nur, ähm, ein Gerücht wäre?

Was? Deine Lebensverlängerung? Deine Auferstehung? Dein Tod? Oder was, genau, Hull?

Hmhm. Lisa, was nochmal war Realität und was Fiktion?

Sag’s mir.

Ja. Realität, Wahrheit, Wirklichkeit – all das sind Dinge die uns Menschen faszinieren, aber auch überfordern. Hoffnungslos überfordern. Wir träumen davon, dass diese edlen Dinge uns leiten. Aber das können sie nicht.

Warum nicht?

Weil wir immer in Fiktionen leben. Tagtäglich erzählen wir uns Geschichten. Wir sagen: Hör mal, was ich gestern da oder dort gesehen, erlebt, gehört habe.

Und? Wo ist das Problem damit?

Eben. Das Problem damit ist, dass wir genau diese Stories als Teil der Realität begreifen. Das ist falsch. Wir erzählen uns Dinge, die wir gerne hören. Und sei es die Geschichte vom Urknall. Ich meine die Entstehungsgeschichte des Universums. Wir erzählen sie, wir lehren sie an Universitäten, als wäre sie die Wahrheit.

Ist sie’s nicht?

Nie im Leben. Es kann keine Singularität geben. Und was es nicht geben kann, das kann auch nicht in einem Urknall explodieren. Das sind feuchte Träume, mehr nicht.

Wie war es dann?

Keine Ahnung. Vielleicht gab es überhaupt nie einen Anfang.

Okay. Und was hat das jetzt mit deiner lebensverlängernden Injektion zu tun?

Na, alles! Unser Leben ist ein einziger Wahn, wenn man so will. Oder ein Traum. Man sollte einfach möglichst dafür sorgen, dass unser Leben eine erträgliche, eine schöne Geschichte ist. Das zumindest versuchen! So lange wie möglich und so erträglich wie… Wie hiess es noch mal? Die Kunst des Lebens sei das Akkumulieren positiver mentaler Zustände.

Hm. Ich akkumuliere also zu meinem Besten irgendwelche Geschichten? Subjektiver Müll? Beliebigkeit?

Jaaha, du musst das nur, ähm, positiver formulieren. Und dran glauben.

Echt?

Ticketing ins Paradies

Und was hast du da?

Ah, der Zettel da?

Hm.

Ottokar Schlotterbeck reichte ihn über den Tisch. Er freute sich diebisch, darauf angesprochen worden zu sein.

Hm, ich lese das mal kurz, ja?

Ja, klar, ja, super.

Hm.

Auf dem Stück Papier standen folgende Zeilen:

Das Ende schon vor dem Anfang

Diese unschuldige Nacht damals, als plötzlich alles brannte

Die Dinge zerfielen in Atome, tausend Trümmer flogen umher

Und niemand interessierte sich für nichts, es war egal

Nichts war wie zuvor, nichts existierte mehr

Nur noch sinnlose Leere und Einsamkeit

Einsamkeit jedoch ist der Motor der Kultur

Und der Geschichte, eigentlich der wahre Antrieb für alles

Manchmal kommt diese Erinnerung an die Zerstörung

Und man fängt wieder an zu wirken – ganz kleine Schritte aus dem Nichts

Immer wieder von vorne beginnen, einen Sinn kreieren

Tja, immer weiter treibt man sich selbst an – bis endlich alles doch für immer ruht.

Hm, hast du das geschrieben?

Ja, Quirin. Manchmal versuche ich mich als Dichter.

Quirin Schmitz lächelte gequält.

Okay. Er versuchte tatsächlich aufmunternd zu klingen.

Okay?

Ja, scheint mir ganz gut, ähm, gelungen.

Hm, danke.

Ist es ein Liebesgedicht?

Ein Liebesgedicht…? Wie kommst du da drauf.

Nun, enttäuschte Liebe führt zuweilen zu Atomzerfall, oder nicht?

Ah, so! Verstehe. Ja, kann man durchaus, ähm, so, ähm, seh… lesen.

Hm.

Ja.

Schlotti. Den Antrieb unserer Kulturgeschichte, den kann man so sehen.

Aber?

Es gibt auch andere Erklärungsversuche.

Ja?

Mit der Bewusstwerdung der eigenen Sterblichkeit soll die kulturelle Entwicklung der Menschheit begonnen haben. Sagen einige Philosophen.

Okay. Aber wieso sollte dieses Disaster eine kulturelle Entwicklung anstossen? Das ist doch schizophren.

Quirin Schmitz musterte sein Gegenüber und versuchte herauszufinden, ob dieser sich vielleicht ein bisschen verstellte.

Nun, Schlotti, wenn man merkt, dass man sterben muss, dann muss doch ein Ausweg her, oder nicht?

Tjaha, genau so dachte wohl unser Hull. Und schwupps, der Ausweg ward gefunden.

Ja, der auch. Aber schon die Frühmenschen. Bevor sie etwas von Biochemie verstanden. Die Menschen mussten einen Ausweg finden, sonst wäre das Leben auf Abruf unerträglich geworden. Und so haben sie das Jenseits kreiert. Und Götter dazu, die dem Tod trotzen. Das war der Anfang. Daraus wuchsen Religionen, Kulte, Grabstätten, Mumifizierung, et cetera. All das Bemühen, der Menschen, dem Tod doch irgendwie zu entkommen, all das begründete die menschliche Kultur, inklusive Musik, Literatur und bildende Künste.

Ja, hat was. Darüber muss ich mal nachdenken.

Hm.

Dann ist also unsere Kultur, unser Bemühen auf allen Ebenen und Bühnen nichts anderes als ein einziger riesiger Totentanz?

Hm, Totentanz, kann man so sehen, jaja Schlotti. Die Krönung des kulturellen Schaffens wäre dann wohl ein absurdes Requiem auf den Zombie. Hässlich ist er zwar, aber zuverlässig untot. Furchteinflössend aber faszinierend. Man möchte ihn nie beerdigen, weil er immer wieder aufersteht. Das Ziel aller Kultur, oder?

Haha, so wie Hull. Der ist auch unkaputtbar!

Quirin seufzte. Was war der Sinn dieses Treffens? Warum hatte er sich überhaupt auf die Bitte Schlotterbecks eingelassen?

Ähm. Ja. Hull. Stimmt. Wir hatten beide mit ihm zu tun.

Was heisst hatten. Haben. Also ich wenigstens. Schmitz, sag mal, du hast doch einen Haufen Akten über Hull?

Hm, und?

Ja, wäre es möglich. Ich meine, wäre es denkbar, dass wir, ähm, dass wir in diesem Fall kooperieren?

Ottokar, inwiefern kooperieren? Ich habe in Bezug auf Hull nichts mehr, ähm, im Schild, ähm, im Sinn.

Nun, wir beide könnten gemeinsam endlich die Hullbiografie schreiben. Jene, auf die die Leute seit Jahrzehnten warten.

Ouh, Schlotti. Kein Interesse. Schlag dir das aus dem Kopf.

Aber wieso denn? Zusammen wären wir ein Team, dem alles gelingt. Du wirst Investigativjournalist genannt. Mann, das ist schon mal ne Hausnummer. Und ich, ich bring die Wahnsinnsmotivation mit, dieses Projekt zu vollenden.

Vollenden… Quirin lachte. Ja. Fehlt nur noch Tom. Der würde wohl auch gerne seinen Senf dazu giessen.

Tom, nein bewahre. Tom ist ein Dummkopf. Mit ihm würden wir uns nur im Kreis drehen.

Ha, Schlotti, wir drehen uns schon im Kreis. Merkst du das nicht?

Wir? Wie könnte das sein?

Weil das Leben an sich schon zirkulär ist.

Hä?

e-m@il für Mich

Reich mir mal die Butter rüber.

…Hm…, ja. Tom schob sie über den Tisch ohne aufzusehen. Er war in sein leuchtendes Tablet vertieft, vielmehr in irgendwelche internetten Botschaften, die fortwährend aufploppten oder sich via Push-Banner in den Vordergrund seiner neuronalen Aktivität drängten. So liess er sich schon stundenlang visuell catchen und all die schönen Optionen auf Re-Engagements bediente er fleissig. Opt-Out? Kein Problem mit Tom. Sein E-Mail-Account füllte sich zuverlässig mit Hunderten Werbemails und Unsolicited Bulk E-Mails – täglich. Derart von einem Mist zum nächsten geschubst, meinte er dennoch, er selbst surfe durchs Internet, er entscheide, was er sich denn reinziehe. Wer tut das nicht.

Danke.

Mhm.

Tom?

Hm.

Lisa lächelte ihn an und für den Bruchteil einer Sekunde konnte er dies sogar wahrnehmen. Dann tauchte er wieder ab in die unergründlichen „News“ von Giga Tech oder so.

Tohom!

…Ja! Was ist denn?

Wie wär’s, wenn wir eine Tour zum See machen und den Möwen zuschauen.

Sag?

Ähm… Möwen? Wir sind doch gerade schön am Frühstücken. Hast du nicht eben noch Butter verlangt?

Si, tesoro. Ma dopo di che.

Dopo di…, hä? Sprich lieber Deutsch mit mir.

Ja, tesoro.

Hmmm…

Also: See, Möwen?

Ja, Lisa, meinetwegen. Aber lass mich noch… ähm, dieses, diese beiden herrlichen Brioche verdrücken. Dann können wir über alles… Sein Blick war fest in irgendwelche fiesen Pixelansammlungen verhakt.

Hm. Okay. Lass dir Zeit. Ist ja Wochenende.

Wochen, ähm, ende, ja, echote Tom.

Hm.

Tom?

…Hm.

Ähm. Was denkst du, wie geht’s eigentlich Luca, wirklich?

Hm?

Was hältst du von seiner Ankündigung?

Luca ähm, was?

Luca sagte mir, er wolle in eine Alters-WG ziehen. Er habe es satt, alles nur allein durchzumachen.

Durchzumachen?

Ja, glaube, so hat er’s gesagt.

Aber, was will er damit sagen?

Hm, dass er kein Bock mehr hat, allein zu sein, schätze ich.

Ich hab mich eh immer gefragt, warum der Knabe allein lebt.

Naja, Luca ist halt Luca, eine spezielle Nummer.

Nummer? Also, ich versteh‘ gar nicht…

Tom, vielleicht liegt’s an deinem Tablet, dass du…

Hmmm, ja, klar, das stört dich, sorry. Tom seufzte sehr, sehr tief und legte das Gerät zur Seite.

Tja, ich bin auch hier. Normalerweise quatscht man ein bisschen, wenn man zusammen frühstückt.

Jaja, man wird sich doch wohl noch ein bisschen informieren dürfen.

Alles zu seiner Zeit, tesoro.

Hmhm.

Luca hat seinen Anker, wie du weisst.

Ja, das meinst du.

Was?

Ja, aber ist er deswegen tatsächlich glücklicher?

Ähm. Als?

Ja, als, als, ähm, andere, als ich zum Beispiel.

Du? Tom, haha, du bist ja das Paradebeispiel für einen depressiven Unglücksraben. Sicher ist Luca besser dran als du.

Ich? hör mal. Ich bin manisch-depressiv. Hat mir damals die, die…, wie hiess sie nochmal?

…die Engelhardt, meinst du?

Ja, genau, die Regina.

Regina? Warst du per du mit ihr? Lisa fixierte ihr Gegenüber.

Nachher schon.

Was nachher?

Ja, als sie in Kunst machte. Sie ist ja damit weltbekannt geworden. Mit ihren Skandalen… Mann! Hat die die Sau rausgelassen. Hätte ich ihr gar nicht, ähm, zugetraut irgendwie. Damals als sie so topseriös wirkte als Ärztin in der Klapse.

Aber, hör mal, wie könnte Luca seine spirituelle Attitüde nicht helfen?

Hä? Spirituelle was? Hör mal, du bist doch seine Schwester. Du musst doch wissen, was er konkret mit seinem Weltbild angestellt hat.

Ja. Klar. Tom. Irgendwie, ich weiss nicht, irgendwie schien’s für ihn immer klar zu sein. Die letzte Frage, oder die letzten Fragen stellten sich für ihn einfach nicht. Da sei immer schon eine Gewissheit gewesen, sagt er.

Du sprichst schon die ganze Zeit in Rätseln, meine Liebe. Was willst du mir über Luca mitteilen?

Nichts. Tom. Ging mir nur gerade so durch den Kopf. Von wegen Glück und so. Und was Hull dazu sagte.

Hull?

Hm. Jedenfalls glaube ich, dass für Luca eh schon immer klar war, dass sein Leben mit dem Tod nicht enden wird. Er sagte schon immer, ist doch logisch, die Seele kann gar nicht sterben. Die Seele ist frei.

Hm.

Deshalb war er immer schon mit Hull, wie soll ich sagen, ähm, im Widerspruch oder so, wenn’s ans Eingemachte ging. Auch findet er Hulls Wiederbelebung und seine Verjüngungs-Injektionen nicht wirklich sooo attraktiv, oder wie soll ich sagen, richtig? Sinnvoll? Angebracht?…

…Tja, ich schon, sehr angebracht! Tom lächelte selig; sein Tablet zog seine fettigen Brioche-Fingern wieder auf seine verheissungsvolle Oberfläche.

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