Das natürliche Driften der Gedanken

Hull trat ans Fenster. Kein Fenster zum Hof und die Aussicht war auch sonst nicht so Spannung verheissend. Aber immerhin ermöglichte dieser Blick ein bisschen Weitsicht, hinaus in die wuselige Welt, die doch so schwer zu durchschauen war. Sein Auge blieb an einem Lieferwagen auf der entfernten Umfahrungsstrasse kleben. Gedankenverloren folgte er diesem Gefährt, bis es hinter dem nahen Gebüsch des Nachbargrundstücks verschwinden musste. Doch dann kam schon der nächste Kleintransporter.

Und so betrachtete Hull eine Weile das Fliessen des Verkehrs. Dieses unaufhörliche Kommen und Gehen von Fahrzeugen, welche Personen, aber zur Hauptsache Dinge, ganz viele Dinge, transportierten. Dinge, die Menschen brauchten oder einfach nur begehrten. Das alles lief fortwährend ab, wir wissen es, nicht ohne Reibung, aber doch erstaunlich gut. Die ganze Warenherstellung, der Transport, die Verteilung und letztlich der Konsum – alles lief täglich wie nach Plan, aber eben ohne Plan. Das heisst, natürlich gab es so kleine – Plänchen, winzige Ausschnittspläne sozusagen. Also so was wie zum Beispiel ein Transportplan: Fahrzeug X fährt zunächst A an, dann B, dann C. Und nicht umgekehrt. Wir wissen warum. Aber das ist nicht die Frage. Die Frage ist, warum das grosse Ganze – trotz der erwähnten gesellschaftlichen Reibungen – so leidlich gut funktionierte. Denn ein Gesamtplan existierte nicht. Niemand steuert all diese Fahrzeuge oder sonst was. Und das war doch erstaunlich. Denn würde man sich eine komplexe Gesellschaft am Reissbrett oder am PC ausdenken, ohne Erfahrung mit dieser Materie zu haben, dann würde man wahrscheinlich mit einem gigantischen Plan beginnen. Man würde versuchen, alles von oben nach unten durchzuorganisieren. Topdown auf Neudeutsch. Damit sicher kein Mangel herrsche, zu keiner Zeit. Damit es gerecht und effizient zu und her gehe.

Das wurde ja tatsächlich versucht. Wir kennen diese Fünfjahrespläne, die gelenkte Wirtschaft. Von oben nach unten durchnummeriert und strukturiert. Auf dem Plan sah immer alles gut aus. Dass es in der Praxis nicht funktionierte, ist bekannt. Nur über das Warum des Scheiterns streiten sich die Leute. Viele meinen, es habe mit falschen Leuten am falschen Schalter zu tun, oder mit Moral. Doch Hull war sich sicher, dass die passende Antwort aus der Neurobiologie stammen musste. Maturana und Varela erklärten, wie Zellen, Metazeller, wie schliesslich auch der Mensch sich selbst organisierten, um es ganz einfach auszudrücken. Die Selbstorganisation funktioniert im Reich der Biologie. Neue Strukturen sind die Folge, sie tauchen auf, müssen sich und ihre Organisation in wiederkehrenden Prozessen bewähren. Milliarden von Körperzellen werden nicht zentral, sondern autonom durch ein Wechselspiel von Genom und Signalen von aussen gesteuert. Und doch greift alles wunderbar ineinander – dank der Zauberkräfte der Evolution. Und so driften diese biologischen Einheiten durch Raum und Zeit, verändern sich, neue Systemebenen „erscheinen“ und machen alles noch komplizierter.

Die menschliche Gesellschaft, das ist eine solche neue Systemebene. Eine der kompliziertesten. Konnte sie denn anders als durch das Prinzip der Selbstorganisation zum Laufen gebracht werden? Die Frage, wie man das Wirtschafts- und Sozialleben steuern müsste – die Antwort müsste zuerst zu weiteren Fragen führen: Wie funktioniert es denn aktuell im Detail? Welche Eingriffe gibt es mit welchen Folgen? Wie sah bisher die Evolution all dieser Strukturen und Funktionen aus? Zum Beispiel die Frage nach dem Staat: wieviel davon ist denn – richtig? Braucht es etwa gar keinen? Was wäre, wenn Anarchie herrschen würde? Würde etwas Staatsähnliches von selbst wieder entstehen? Das andere Extrem, den totalitären Staat, kennen wir schon. Welche anderen Systeme sind noch relevant für die Ausgangsfrage, also der nach Steuerung und Eingriffen? Die „Umwelt“, die „Moral“? Welche Interaktionen gibt es zwischen diesen Systemen? Was ist die grundlegende Währung der Gesellschaft? Ist es die Kommunikation, der Informationsaustausch? Wie verhalten sich die „Zellen“ der Gesellschaft, die einzelnen Menschen zueinander, wie unter welchen Bedingungen? Die bange letzte Frage war, wohin steuern all die Gesellschaften auf diesem Planeten? Atomkrieg, Überbevölkerung, Hungersnöte…

Endet alles in einer grossen zentralistischen Diktatur? Wäre das nicht vollkommen absurd? Aber möglich?

Hull dachte: Warum komme ich bloss auf solch nostalgische Gedanken beim Betrachten des LKW-Verkehrs da draussen? Ja, das waren schon reichlich alte Fragen, zweifellos. Aber von brauchbaren, fruchtbaren Antworten schien die Menschheit immer noch ein Stück entfernt zu sein.

Es klingelte. Mit einem hörbaren Plopp stieg Hull aus seiner sich immer schneller drehenden Gedankenwolke und stapfte zur Tür. Der Postbote hatte sein Kommen jedoch gar nicht erst abgewartet. Vor der Tür stand nur ein grosses Paket mit der Aufschrift: Vorsicht – zerbrechlich. Hull sah dem davonbrausenden Lieferwagen nach und lächelte.

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