Sie wissen schon, was sie tun

Kann ich… für eine Weile, ähm, bei dir Unterschlupf finden?

Die Frage war direkt, sehr direkt. Luca musterte den alten hageren Mann, erkannte ihn auch sofort wieder.

Hull, ja, ähm, wie soll ich sagen…

Ja oder nein, ganz einfach. Ich weiss einen Knastbruder nimmt niemand gerne auf. Ich muss mich erst um eine Loge bemühen, weisst du. Und ich dachte, wir kennen uns schon eine Weile, da wäre so…

Ja, komm erst mal rein. Wir bequatschen das bei einem guten Espresso, wie es sich gehört.

Okay, Luca, danke.

Hull betrachtete seinen alten jungen Freund und bemerkte die Veränderung. Er hatte ihn ja mehr als sieben Jahre nicht gesehen. Auffallend war Lucas Bauchspeck. Er musste an die dreissig Kilo zugelegt haben.

Nimm Platz, Hull.

Hull setzte sich auf den kleinen Metallhocker in der Mitte des Zimmers. Luca verschwand in der Küche und erschien bald darauf mit einem Tablett, zwei Espressi, Zucker und ein paar Keksen. Luca setzte sich auf sein Bett.

Hier, dein Lieblingsgetränk. Ich hab zwar keine Quick Mill, aber meine Bezzera Magica kann auch was.

Hm.

Hull.

Hm.

Sag mal. Wie bist du eigentlich so schnell wieder raus gekommen?

Schnell? Sieben Jahre, drei Monate und elf Tage – alles andere… Was soll denn die Frage, Luca?

Nichts. Ich denke nur, ein Doppelmord, ähm, das gibt eigentlich… du weisst schon, das Strafmass…

Gute Führung und ja, es war ein Indizienprozess. Am Ende hiess es leider für mich: Im Zweifel gegen den Angeklagten. Von daher. Der Richter hatte wohl doch ein bisschen Skrupel. Höchststrafe war da nicht angebracht.

Okay. Wie hast du’s denn gemacht?

Was gemacht?

Na, den Mord. Die Morde.

Hull stellte den Kaffee auf den alten Teppichboden und machte Anstalten sich zu erheben.

Luca. Ich denke, ich gehe besser wieder.

Was? Auf keinen Fall. Was soll das? Mir kannst du die Geschichte doch erzählen.

Die Geschichte schon. Aber mit Mord hat die nichts zu tun.

Ah, verstehe. Du hast ja auch nie gestanden. Hm, bist du wirklich unschuldig?

Ja.

Unschuldig sieben Jahre im Knast…?

Ja.

Wahnsinn. Aber die Toms. Beide. Der Schriftsteller und der Yogalehrer. Sie sind weg. Verschwunden. Wurden zuletzt bei dir gesehen. Man hat die Schusswaffe bei dir gefunden. Und schliesslich Lisa. Meine Schwester hat gegen dich ausgesagt.

Lisa hat nicht wirklich gegen mich ausgesagt. Sie sagte eigentlich eher gegen sich selbst aus. Schliesslich hatte sie ein ganz persönliches Problem mit den beiden, nicht ich. Oder sagen wir, ich hatte nicht so ein grosses Problem mit ihnen. Jeder hatte ja ein Problem mit den beiden. Der Schriftsteller hat unseren Spielraum begrenzt, der Yogalehrer auch, auf seine Weise. Insofern hattest du wohl das gleiche Motiv wie ich.

Ich? Hull, was willst du damit andeuten…?

Andeuten? Nein, nein. Ich gebe ja zu, ich geniesse die neuen Freiheiten. Jetzt endlich.

Welche meinst du? Die Entlassung aus dem Gefängnis?

Die auch, natürlich, Luca. Aber ich meine, dass die Toms weg sind. Niemand schreibt mehr bescheuerte Drehbücher für uns. Nach denen wir uns zu verbiegen und herumzualbern haben. Nur das Leben schreibt fortan unsere Geschichte. Das Leben, verstehst du, Luca.

Das Leben? War das für dich nicht nur so was wie ein Mythos? Ein aus funktionaler Logik geborener Begriff für… für, äh, Stoffwechsel, der sich in den Wesen in eine Illusion von Freiheit und Träumerei auflöst.

Hm. Das Leben, was immer es genau ist, es ist alles, was wir haben. Und es erlaubt uns zu träumen, zu wünschen, zu spielen. Mehr haben wir nicht. Wir wissen nichts, wir glauben nichts.

5 Kommentare zu „Sie wissen schon, was sie tun

    1. Vielen Dank, Christine!

      (Ich wollte das Träumen, Wünschen und Spielen ins rechte Licht setzen und würdigen, auch im direkten Vergleich zu den Begriffen Wissen und Glauben. Meist wenn es um die fröhliche Beäugung eines möglichen Sinns des Lebens geht, werden Wissen und Glauben bemüht und einander gegenübergestellt. Wobei Glauben ja nichts anderes als Wissen ohne Beweise ist. Ich behaupte, beides ist nicht ganz so furchtbar wichtig, wie wir meinen. Es geht doch im Leben primär um die Motive. Ohne Motivation bliebe nur ein Bioroboter übrig. Motivation aber entsteht im Individuum beim Spielen, in Tagträumen und ist praktisch ein Synonym für den Wunsch. Ja, es ist schön, kein Bioroboter zu sein, sondern ein Träumer, ein Zocker, einer der sich stets neue Ziele ausheckt.)

      Schöne Grüsse, Tom

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  1. Motivation, unsere Beweggründe warum wir etwas tun … basiert sie nicht auf ein angeeignetes Wissen, das wir durch ein Ausprobieren und in die Hand nehmen oder informieren erfahren haben? Aber ich bin ganz Deiner Meinung, dass das Augenmerk sich nicht verschieben darf, dass das, was uns als Mensch leben und erleben lässt genau das ist: träumen, wünschen und spielen …

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    1. Das ist genau die Frage! Die Kognitivisten, die seit Jahrzehnten die psychologische Theoriebildung dominieren, behaupten das schon. Der entscheidende Punkt beginnt aber bereits in deinem Nebensatz: „das wir durch ein Ausprobieren und in die Hand nehmen…“ etc. Warum aber probieren wir etwas aus? Was ist der Antrieb oder Impuls? Und wenn wir etwas ausprobiert haben: wie wird es bewertet? Kognitiv? „Das hab ich aber richtig gemacht.“ Hm. Wenn alles kognitiv lösbar wäre, wären wir nichts anderes als Schachcomputer. Der ist zwar super schlau, was Schachspielen betrifft. Aber hat der je Bock auf Schach? Fordert er irgendwann jemand zum Spiel heraus? Das Ding hat keinen Antrieb. Und ja, ich kenne mich nicht wirklich aus in der KI-Literatur. Doch würde ich beinahe wetten, dass die Motivation letztlich das Hauptproblem der starken KI ist. Man kann heute praktisch schon einen humanoiden Roboter bauen, der z.B. von meiner Wohnung bis zum Bahnhof laufen könnte. Weil er dazu alle kognitiven Fähigkeiten hätte, die es bräuchte. Aber wann würde er gehen – wollen? Hilft da etwa ein Zufallsgenerator oder ein Marschbefehl von aussen? Motivation entsteht sicher im Gehirn durch neuronale Verrechnung. Doch würde ich diesen Vorgang nicht als Kognition bezeichnen. Der heranwachsende Mensch (bzw. Tier) braucht bereits ein basales Motivationssystem, das vor jedem Wissen schon funktioniert und lebensnotwendiges Verhalten erzeugt. Sonst wären wir längst ausgestorben. Das Leben ist mehr als Kognition.

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      1. Selbstverständlich ist Leben mehr als Kognition! Mit der Geburt ist es wohl der Überlebenswille, der uns dazu veranlasst, mit unserer Umgebung vertraut zu werden, also dazu lernen zu wollen. Doch wenn das System erst einmal im Schwung ist, dann ist es ein Lächeln der Mutter, das unsere Aufmerksamkeit fängt, es ist die Begeisterung und Freude, die durch Farben und Formen ausgelöst werden und es ist dies unbändige prickelnde Gefühl des Abenteuers, das uns immer wieder Neues erforschen lässt. Der Mensch tut dies, weil er lieben kann, er liebt andere Wesen und die Welt und fühlt damit die Verbundenheit, die allem innewohnt.

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