Dreieinhalb Wünsche

Schau mal, da drüben schlagen sich gerade ein paar Vollpfosten die Köpfe ein. Können wir das erklären? Die einen finden’s klasse gegen den Lockdown anzutreten, die andern verurteilen das. Hm. Verstehen wir denn etwas grundlegend falsch…?

Ja. Diese Pandemie zeigt doch deutlich, wie der Mensch tatsächlich funktioniert. Er denkt sich zuerst einmal was aus; also eben zum Beispiel wie er diesem Virus Herr werden könnte. Das ist dann seine Theorie, das Rationale, worauf er so verdammt stolz ist. Aber dann, dann kommt der Alltag, das tatsächliche Verhalten unter erschwerten Bedingungen. Das kuschlige Labor ist auf einmal weg. Und dieses Verhalten im Alltag wird leider praktisch gar nicht rational gesteuert. Diese Praxis ist vielmehr ein emotionales Herumprobieren und -stolpern. So kommt es, das der eine das und der andere das Gegenteil tut. Dann knallt’s und die Leute halten das dann sogar für Politik und sehen dann immer gleich ihren Standpunkt bestätigt.

Okay, Luca. Aber können wir das inzwischen nicht etwas – gebildeter formulieren?

Wozu Hull? Wozu weitere Theorien aufschichten? Die menschliche Praxis bleibt so oder so reichlich primitiv. Schau dir nur diese Hohlköpfe dort an.

Man könnte doch eine Theorie des motivationalen Verhaltens entwerfen. Diese müsste die Diskrepanz des tatsächlichen Verhaltens zur kognitivistischen Theoriebildung erklären können. Man hätte damit vielleicht sogar ein Werkzeug, um solchen Krisen besser zu begegnen.

Solche Theorien gab es schon. Nur konnten sich die Psychologen nie auf eine einigen. Also haben sie alles, was im Hirn geschieht, zur Kognition erklärt. Du weisst, sie nennen das die kognitive Wende. Davor war alles nur Verhalten. Die Motivation hingegen, also die Gründe, warum überhaupt jemand irgendetwas tut, das war stets nur ein Stiefkind der Wissenschaften. Also bleibt sie das Steckenpferd der Literaten. Das bedeutet, der Mensch versteht sich selbst offiziell ohne grosse Zweifel einfach als perfekten Homo sapiens, als rationales Tier, das sich selbst als solches erkennt. Jegliches Scheitern beim Anwenden dieser Theorien auf die menschliche Praxis wird ignoriert. Der Mensch ist vielleicht so sehr mit Problemlösen beschäftigt, dass ihm nicht auffällt, dass man nur dann ernsthaft denkt, wenn man gerade ein Problem lösen muss.

Hm, sehe ich genauso. Sehnsüchte, Bedürfnisse, Begierden, empfundene Verluste, Defizite, Einsamkeit, ja, sogar Freude über dies oder jenes, ein Streben, ein Getriebensein. All das beschreiben nur noch Lyriker und Esoteriker. Daran wird sich so bald nicht viel ändern. Aber woher kommt diese Einseitigkeit? Ich vermute, sie entspringt wieder einmal einer Metapher.

Einer Metapher?

Ja, viel Mist entsteht dadurch, dass wir unseren durch Worte kreierten Bildern glauben.

Mag sein, Hull. Sag schon, welche Metapher meinst du?

Nun, alles was wir tun können, um Erkenntnisse zu gewinnen, um uns voranzubringen, alles basiert entweder auf Glauben oder Wünschen.

Ich kenne dich, du lenkst ab. Aber was soll das? Unsere Erkenntnisse beruhen doch auf Wissen.

Wissen ist immer relativ. Glauben und Wünschen sind jedoch absolut. Also haben sie das Primat in den Köpfen. Wenn ich glaube, etwas sei so oder so, werde ich es schon beweisen. Oder zumindest versuchen. Wenn ich etwas wünsche, werde ich versuchen, es zu realisieren. Aber wenn ich etwas bloss weiss, lässt mich das kalt oder ich werde womöglich Gegenbeweise suchen. Wissen wird nur unter Wissenschaftlern geschätzt, ansonsten sind oder wären wir eben im Bereich der Motivation. Und dies, mein lieber Luca, ist unser wahres Himmelreich.

Ja, Hull, jetzt die Me-ta-pher…

Hm. Vielleicht irre ich mich ja?

Mann!

Nun, die Neurowissenschaft braucht das Bild vom Rechnen oder Verrechnen von Information im Gehirn beziehungsweise in den Neuronen. Signale werden da stets „verrechnet“. Das ist doch ein Bild, oder? Als ob Neuronen denken würden oder zumindest rechnen, als wären es nicht Stoffwechsel- und Informationsmaschinen, sondern winzige Taschenrechner.

Hm, also diese Metapher stört doch bestimmt nicht bei der Theoriebildung.

Na, Luca, wenn jedes Neuron schon rechnet bevor man so genau hingeschaut hat, dann findet Kognition schon in der Zelle statt…

…naja, wo denn sonst?…

…Ja, aber, dann sind alle Neuronen nur noch Kognitionszellen, selbst jene, die Impulse an die Muskulatur weiterleiten.

Hull. Ich glaube, das ist Quatsch.

Doch, doch, da ist was dran. Man redet dann schon auf neuronaler Ebene von Kognition. Kognition ist nicht mehr Denken, Gedächtnis, etc. Kognition ist sämtliche Informationsverarbeitung im Gehirn. Damit werden Gefühle und Motive zu blossen Sonderfällen der Kognition, so genannte Einfärbungen des Denkens und sind also weitgehend zu vernachlässigen.

Hm. Du meinst, die Kognitionswissenschaftler hätten sich mit ihrer Sprachwahl schon die Ergebnisse gesichert, die sie liefern wollten?

Ja, das ist kein Beispiel fürs Glauben, sondern ein klassischer Wunsch. Wahrscheinlich ein unbewusster, was die Sache aber gar nicht besser macht.

3 Kommentare zu „Dreieinhalb Wünsche

  1. Das erinnert mich ein wenig an Heisenbergs Buch „Der Teil und das Ganze“. Darin gibt es eine Diskussion über die Sprache (im Zusammenhang mit der Quantentheorie), und „die Kraft der Bilder, die das Denken der Menschen durch die Jahrhunderte bestimmt“ (dtv 1987, S. 158)….

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    1. Danke für den Hinweis! Wahrscheinlich ist es auch eine anthropologische Konstante, solch (falsche) Bilder vom Menschen zu konservieren. Früher hat mich das noch ziemlich in die Gänge gebracht. Heute sag ich mir: Darauf kommt es vielleicht gar nicht an. Man kann oder könnte auch das Richtige tun, selbst wenn alle Theorie falsch wäre…

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      1. Ganz genau! Das ist ein schöner Satz: „Man kann oder könnte auch das Richtige tun, selbst wenn alle Theorie falsch wäre…“. Kommt auf meine „Zum-merken-würdig-Liste“.
        Liebe Grüße an dich!

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